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Gedankenzüge

Walt Whitman: Experiment Demokratie

Das Projekt GEDANKENZÜGE als Kooperation zwischen der Fakultät Kulturwissenschaften der Technischen Universität Dortmund und DSW21 begann im Jahr 2011. In den Dachschrägen der U-Bahnzüge wurden damals Aufkleber mit literarischen Zitaten platziert, und zwar in sechs Sprachen, die in Dortmund zu hören sind und gesprochen werden.

Die Texte auf diesen Aufklebern, die über zehn Jahre lang in vielen Bahnen hingen, waren in der Originalsprache und in deutscher Übersetzung zu lesen und stammten von bedeutenden internationalen Autor*innen: Tschingis Aitmatow (Russisch), Ataol Behramoğlu (Türkisch), Eduardo Galeano (Spanisch), June Jordan (Englisch), Ilse Kibgis (Deutsch) und Nagib Machfus (Arabisch). Das Projekt wurde von verschiedenen Aktionen (Lesungen, Präsentationen) begleitet und führte zu vielen positiven Reaktionen von Dortmunder*innen und Besucher*innen der Stadt.

Auch die zweite Auflage der GEDANKENZÜGE, wieder in Kooperation zwischen DSW21 und der Fakultät Kulturwissenschaften der TU Dortmund, soll einen Beitrag zur kulturellen Bildung in der multikulturellen Gesellschaft der Stadt leisten, ihre Weltoffenheit betonen und den städtischen Integrationsprozess unterstützen. Immerhin sind die öffentlichen Verkehrsmittel ein Ort, an dem die ganze Stadt zusammenkommt: ob jung oder alt, ob neu in der Stadt oder schon seit vielen Generationen ansässig.

Thematisch steht im Zentrum der zweiten Auflage der GEDANKENZÜGE eine gesellschaftliche, politische und kulturelle Herausforderung, die sich in den letzten Jahren deutlich verstärkt hat. In dieser Zeit haben wir international und in unserem eigenen Land gelernt, dass Demokratie weder naturgegeben ist noch selbstverständlich. Die zunehmenden Attacken gegen demokratische Prinzipien und Einrichtungen auf der gesamten Welt zwingen uns dazu, für diese – unsere – Demokratie einzutreten als etwas, das es zu bewahren gilt und für das es sich zu kämpfen lohnt.

Gedankenzüge 2022 im Rahmen von Dortmund.Live vorgestellt

Die Formel „Experiment Demokratie“ des US-amerikanischen „Dichters der Demokratie“, Walt Whitman, ist dabei für dieses Projekt richtungsweisend. Dieses Experiment, so schrieb er 1871 in seiner kulturpolitischen Streitschrift Democratic Vistas, wird keinen dauerhaften Erfolg haben, wenn das „moralische Bewusstsein, das Gewissen“ fehlt, das das „Rückgrat des Staates und seiner Menschen“ ist. Bereits zu Whitmans 200. Geburtstag am 31. Mai 2019, den wir mit einem großen Fest im Dortmunder Rathaus feierten, und bei dem Bürgermeister Manfred Sauer die zahlreichen Teilnehmer*innen begrüßte, haben wir Texte dieses Dichters zum Thema Demokratie präsentiert. Studierende der Fakultät Kulturwissenschaften lasen Lyrik Walt Whitmans in 12 Sprachen: Albanisch, Arabisch, Deutsch, Englisch, Farsi, Griechisch, Italienisch, Kurdisch, Niederländisch, Portugiesisch, Russisch, Serbokroatisch, Spanisch und Türkisch. Daneben gab es Whitman-Kunst, Whitman-Musik und Whitman-Filme.

Eine kurze Zusammenfassung dieses Events finden Sie hier:

Walt Whitman

Walt Whitman (1819–1892), geboren im US-Staat New York, war ein US-amerikanischer Autor des 19. Jahrhunderts. Gerade in den Jahren seines Schaffens blickte die Welt auf das neuartige Experiment der Demokratie, das mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776 begonnen hatte, in der Thomas Jefferson (in zeitgenössischer Übersetzung) feststellte: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“ Whitman wollte die Demokratie allerdings nicht auf sein eigenes Land beschränkt wissen. Vielmehr sprach er in seinem großen, global orientierten Gedicht „Salut au Monde!“ die gesamte Welt, alle Länder, Regionen, Städte, Nationen und nationalen Minderheiten, Menschen aller Berufe, jeglicher Herkunft, Hautfarbe und sexueller Orientierung an und forderte sie auf, dem Beispiel seines Landes zu folgen. Dabei war er sich der Vorreiterrolle der USA in Sachen Demokratie zwar bewusst, wollte aber sein Land keineswegs als dominante Kraft in diesem Prozess verstanden wissen. Stattdessen sah er seine Lyrik als kulturelle Diplomatie, der sich Menschen auf der ganzen Welt anschließen sollten.

Flyer mit Infos und einem Bild des Dichters Walt Whitman.
Stephen Alcorn © 2019, Relief-Blockdruck, www.alcorngallery.com

Die Reaktion auf Whitmans lyrische Botschaft war ungeheuer. Er wurde nicht bloß in die Sprachen Europas und auch nicht allein in die dominanten Nationalsprachen übersetzt. Übersetzungen seiner Werke reichen vom Walisischen über das Jiddische bis hin zum Kasachischen, dem Kirgisischen, dem Kambodschanischen und Chinesischen. Whitman ist „Weltliteratur“ im wortwörtlichen Sinn. Das Thema der Demokratie verband sich mit einer äußerst innovativen lyrischen Sprache – seit Whitman gibt es reimlose Gedichte und Lyrik in freien Versen. Freiheit verstand er nicht bloß politisch, sondern auch ästhetisch-künstlerisch. Afroamerikanische Schriftsteller*innen des 20. Jahrhunderts fühlten sich von ihm ganz besonders angesprochen; ihr lyrischer Dialog mit dem US-amerikanischen Autor ist breit gestreut und komplex. Ähnlich bedeutend ist auch die Anziehungskraft Whitmans für die Schwulenbewegung und für LGBTQ-Autor*innen, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert national und international zunehmend Gehör verschafften.

Für die Zitate im Rahmen der GEDANKENZÜGE haben wir zusätzlich zur englischen Originalsprache und der Übertragung ins Deutsche Whitman-Texte in den sieben Sprachen ausgewählt, die in Dortmund signifikant vertreten sind. In alphabetischer Reihenfolge sind dies: Arabisch, Italienisch, Polnisch, Russisch, Serbokroatisch, Spanisch und Türkisch. Gerne hätten wir auch weitere Sprachen aufgenommen, die in unserer Stadt bedeutsam sind, etwa das Albanische oder das Kurdische. Den schnellen Zuzug von Menschen, die Ukrainisch sprechen – eine Sprache, in die Whitman ebenfalls übersetzt wurde –, konnte dieses Projekt leider nicht voraussehen. Mit der sprachlichen Kennzeichnung „Serbokroatisch“ wird die Differenzierung der Sprache von Leser*innen in Kroatien, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien nicht ignoriert – ins Slowenische wurde Whitman ebenfalls mehrfach übersetzt – vielmehr soll die Bedeutung des amerikanischen Lyrikers für die Literaturen aller Völker des ehemaligen Jugoslawien hervorgehoben werden. Auch ins Spanische wurde Whitman sehr vielfältig übertragen – unsere Übertragung entstammt einer spanischen Whitman-Ausgabe eines mexikanischen Verlags, die in Barcelona erschienen ist; ihr Übersetzer ist Ecuadorianer.

Wie auch die deutsche Übersetzungsgeschichte Whitmans zeigt, spielen Übersetzer*innen für die internationale Verbreitung Walt Whitmans eine besondere Rolle. In vielen Fällen waren seine Übersetzer*innen besondere, außergewöhnliche Menschen. Die Regel, dass Menschen, die sich für Whitman interessieren, auch selbst etwas zu sagen haben, ist selten falsch. Erst in den letzten Jahren ist im Literaturbetrieb die Erkenntnis gereift, dass Übersetzer*innen Mit-Schaffende literarischer Texte sind, die literarische Werke in Übersetzungen zu neuen Kunstwerken machen. Unser Projekt möchte den Beitrag der Übersetzer*innen daher besonders würdigen.


Beiträger*innen zu dem Projekt

Entwurf, Entwicklung und Organisation des Projekts:

Walter Grünzweig, Julia Sattler (Fakultät Kulturwissenschaften, TU Dortmund)

Beratung bei Texten und Übersetzungen:

Ed Folsom (Iowa), Daphne Orlandi (Rom/Dortmund), Heinrich Pfandl (Graz), Marta Skwara (Szczecin), Bilal Souda (Dortmund), Efraín Villanueva (Dortmund)

Studentische Beiträger*innen zu Textauswahl und Einrichtung:

Evelyn Lamch (Polnisch), Alina Starostin (Russisch), Frano Škaro (Serbokroatisch), Maria Lopez Perez (Spanisch), Lamia Altay, Linda Saman und Tahmina Khudarayova (Türkisch)

Mitglieder des studentischen „Global Whitman Projekts“:

Çağla Akün, Maedeh Mirzaei Ataabadi, Matthias Baum, Melisa Bayramoğlu, Melanie Beerens, Tabea Bergschneider, Anna Brüning, Jonathan Büker, Paulina Busche, Anna Drom, Kim Gass, Isabel Hensel, Jens Hilger, Julia Hofsendermann, Melda Kavak, Laura May Konieczny, Vanessa Krefta, Carolin Maaßmann, Sarang Mußhoff, Carolina Narciso, Leonie Petermann, Lars Peters, Katharina Priestley, Sophie Rabelt, Fabienne Rink, Adrijan Ramay, Kathryn Simonds, Frederike Stiepermann, Friederike Unkenholz, Ursula Vormbrock, Samira Wessing, Marleen Wieland, Hanna Wördemann

Design

Für das Design der Aufkleber und Stadtbahnwagen danken wir den Mitarbeiter*innen der Agentur akut.

Für Entwicklung und Design der Webpage danken wir Lea Roeing und Vera Pleßer (Referat Hochschulmarketing, TU Dortmund).

Whitman Porträt

Wir danken Stephen Alcorn und dem Alcorn Studio & Gallery in Richmond, Virginia, für die Erlaubnis, das Porträt Walt Whitmans für dieses Projekt zu verwenden. 
www.alcorngallery.com

Ressourcen

Walt Whitman ist die vermutlich umfangreichste und ausführlichste Website gewidmet, die man bei Autor*innen der Weltliteratur finden kann. Auf der von Prof. Ed Folsom, University of Iowa, vormals Fulbright-Gastprofessor in Dortmund, und Prof. Kenneth Price, University of Nebraska, betreuten Website findet man alle seine gedruckten Werke in englischer Sprache und viele in anderen; Manuskripte seiner Gedichte, die ihre Entwicklung dokumentieren; Sekundärliteratur; alle bekannten Fotos Whitmans, der sich früh für die Bedeutung des neuen Mediums der Demokratie interessierte; ja selbst eine Wachszylinder-Aufnahme der Stimme Whitmans, umgewandelt in eine mp3-Datei, mit einer Lesung des kurzen Gedichts „America.“

https://whitmanarchive.org

Auf dem Whitmanweb des International Writing Program der University of Iowa finden Sie Whitmans langes Gedicht „Song of Myself“ in 16 Sprachen: Arabisch, Chinesisch, Deutsch, Englisch, Spanisch, Persisch, Philippinisch, Französisch, Kambodschanisch, Kurdisch, Malaysch, Polnisch, Rumänisch, Türkisch, Russisch, Ukrainisch. Auf die ukrainische Übersetzung sei hier ganz besonders hingewiesen.

Die deutschsprachige Gesamtausgabe der Werke Whitmans in der Übersetzung des Dortmunder Lyrikers Jürgen Brôcan wurde im Hanser Verlag publiziert.

Später im Jahr 2022 erscheint die Erstausgabe von Whitmans Grashalme, die von einer Übersetzer*innengruppe an der TU Dortmund erarbeitet wurde, im Aachener Rimbaud Verlag, der schon zwei Whitman-Publikationen in seinem Programm hat.

Als umfangreiche Ausgabe in englischer Sprache empfehlen wir die Leaves of Grass: The Complete 1855 and 1891-92 Editions: A Library of America Paperback Classic, ein preiswertes Paperback.


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