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Dieser Text aus Whitmans späterem Prosawerk Democratic Vistas (Demokratische Ausblicke), das 1871 erschien, enthält die zentrale Idee der zweiten Auflage der GEDANKENZÜGE. Auch in Europa wird immer wieder davor gewarnt, dass Wirtschaftskrisen demokratiegefährdend sind.
So wichtig das materielle Wohlergehen aller Menschen unseres Landes und der gesamten Welt auch ist, weist Whitman darauf hin, dass das nicht genügt. Wohlstand, das merkt man insbesondere in den vergleichsweise wohlhabenden Ländern des „Westens“, ist noch keine Garantie für die Demokratie. „Materielle Fülle“ allein, so Whitman, zeitigt keinen dauerhaften Erfolg dieses Gesellschaftssystems. „Moral conscience“, was man als „moralisches Bewusstsein“ und gleichzeitig „moralisches Gewissen“ übersetzen kann, ist entscheidend. Demokratie ist also eine Sache der Einstellung, eine geistige Kategorie. Wichtig ist, dass Whitman diese Kritik auf sein eigenes Land bezieht, das sich nach dem US-amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 zu sehr auf seine wirtschaftliche Entwicklung und zu wenig auf seine Werte fokussiert hat.
Die Vereinigten Staaten, deren demokratische Entwicklung mit der Unabhängigkeitserklärung des Jahres 1776 begann, hatten mit der Befreiung der Sklaven als Ergebnis des Bürgerkriegs in der Mitte der 1860er Jahre gerade einen riesigen Schritt in die Erweiterung ihrer Demokratie gemacht. Zu wenig, meint Whitman: Ausbau und Erneuerung der Demokratie bleiben unsere stetige Aufgabe.
Julia Sattler und Walter Grünzweig arbeiten im Bereich Amerikanistik des Instituts für Sprache, Kultur und Literatur der Fakultät Kulturwissenschaften an der Technischen Universität Dortmund. Julia Sattler beschäftigt sich unter anderem mit der Whitman-Rezeption durch amerikanische Lyriker*innen des 20. und 21. Jahrhunderts. Walter Grünzweig ist Autor einer Untersuchung zu Walt Whitmans Rezeption in den deutschsprachigen Ländern sowie Herausgeber und koordinierender Übersetzer der Erstausgabe von Whitmans Leaves of Grass (1855), die unter dem Titel Grashalme 2022 im Aachener Rimbaud Verlag erscheint.
