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Gedankenzüge

Deutsche Übersetzungsgeschichte Walt Whitmans

Wie ein Blick in die deutsche Übersetzungsgeschichte beispielhaft zeigt, waren die Übersetzer*innen häufig politisch engagiert. Bereits im Jahr 1868 erschienen die ersten Gedichte Whitmans in der Augsburger Allgemeinen Zeitung.

Dieser erste Übersetzer war der bekannte Lyriker Ferdinand Freiligrath, ein Freund von Karl Marx, der vor, in und nach der Revolution von 1848 eine prominente Rolle in Literatur und Politik spielte und später als Exilant in London lebte. Er war dort auf die erste britische Ausgabe der Gedichte Whitmans gestoßen. Der Autor und seine Freunde in Washington, D.C., die sich um die Verbreitung seines Werks bemühten, waren begeistert, denn Freiligrath war ein wichtiger Name in Europa und sein Interesse für Whitmans Lyrik ließ auf weitere Verbreitung auf dem europäischen Kontinent hoffen.

Die erste buchlange Übersetzung Whitmans stammt von einem Team von zwei Übersetzern und hatte ebenfalls politischen Hintergrund. Auch sie standen mit dem Autor in Verbindung. Im Jahr 1889 legten der deutsch-amerikanische Philologe, Pädagoge und Übersetzer Karl Knortz sowie der irische Lyriker und Publizist Thomas William Rolleston den Band Grashalme vor – der Titel, unter dem Whitmans Gedichte ihren langen und erfolgreichen Weg durch die deutschsprachige Welt antreten sollten. Die beiden Übersetzer hofften, mit Whitmans Lyrik die demokratische Entwicklung in den deutschsprachigen Ländern zu unterstützen, insbesondere in dem knapp zwei Jahrzehnte vorher unter preußischer Führung geschaffenen Deutschen Reich. Das Buch erschien in der Schweiz bei Jakob Lukas Schabelitz, einem Verleger, der unter anderem Autoren unterstützte, die in Deutschland nicht publizieren durften oder konnten.

Die auf Dauer einflussreichste Übersetzung Whitmans ins Deutsche stammt von Johannes Schlaf, der in der Literaturgeschichte vor allem als naturalistischer Dramatiker bekannt ist, mit Whitman allerdings eine Art Durchbruch zur Moderne erlebte. Das Buch erschien 1907 als preiswerte Taschenbuchausgabe beim Reclam-Verlag, wo sie noch heute im Druck ist. Schlafs Übersetzung mit ihrem intensiven Pathos kam gerade zur richtigen Zeit, um die um 1890 geborene, junge expressionistische Schriftsteller- und Künstlergeneration zu beein­drucken. Der deutsche Expressionismus ist insbesondere in seiner „messianischen“ Variante ohne Walt Whitman nicht denkbar.

Ein weiterer international bekannter Übersetzer Whitmans beschäftigte sich ebenfalls im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit dem Amerikaner; seine Übersetzung erschien allerdings erst 1921 in der Weimarer Republik. Gustav Landauer fand gleich auf drei Wegen Zugang zu Whitmans Lyrik: als Schriftsteller, Mystiker und Reformer. Als der pazifistisch geprägte Sozialist in der Münchner Räteregierung im Frühjahr 1919 kurzfristig „Volksbeauftragter für Volksaufklärung“ wurde, wollte er Whitmans Werk als Pflichtlektüre in allen Schulen einführen, um in der jungen Generation einen grundlegenden Gesinnungs­wandel zu bewirken. Sein kunstvoll gebundenes Buch beim Kurt Wolff Verlag, dem Verlag der deutschen Expressionisten, hat den von den preußischen Militärs ermordeten Landauer wirkungsvoll überlebt.

Die lange Zeit bedeutendste Übersetzung der Werke Whitmans erschien, nun schon in zwei Bänden und in einer Art „klassischer“ Ausstattung mit Goldprägung, im Jahr 1924 beim S. Fischer Verlag. Der Übersetzer war Hans Reisiger, ein langjähriger Vertrauter und Freund Thomas Manns. In seiner 1922 gehaltenen Rede „Von Deutscher Republik“ vollzog Mann mit Whitman einen radikalen Schwenk von seiner früheren nationalkonservativen Haltung hin zu einer demokratischen Einstellung, für die er die deutschen Intellektuellen, insbesondere die Studentenschaft, zu gewinnen suchte. Mit dem Hinweis, „daß es mit Goethe allein denn doch nicht getan sein wird, sondern daß ein Schuß Whitman dazu gehört, um das Gefühl der neuen Humanität zu gewinnen: zumal sie viel gemeinsam haben, die beiden Väter, vor allem das Sinnliche, den ‚Calamus‘, die Sympathie mit dem Organischen“, verbindet er seine neue politische Haltung in Anspielung auf Whitmans homoerotisch geprägten Gedichtzyklus Calamus mit dem Verständnis von dessen sexueller Identität, was mit Manns Wendung vom „Eros als Staatsschöpfer“ eindrucksvoll unterstrichen wird.

Reisigers Übersetzung dominierte zunächst auch die Whitman-Rezeption nach 1945. Sein Werk wurde als Teil der „Erziehung zur Demokratie“ der US-amerikanischen Administration gefördert und kleine broschierte Ausgaben von Teilen dieser Übersetzung finden sich noch heute zahlreich in vielen Antiquariaten und auf Online-Versteigerungsplattformen. Auch in der DDR wurde Reisigers Übersetzung zunächst neu aufgelegt; im Jahr 1966 jedoch erschien eine umfangreiche und attraktive Ausgabe im Verlag Volk und Welt. Übersetzer war der spätexpressionistische Lyriker und Neruda-Übersetzer Erich Arendt, der im lateinamerikani­schen Exil, sicher auch über den Whitman-begeisterten Pablo Neruda, einen hispanischen Whitman für sich entdeckte, der für manche junge ostdeutsche Lyriker und Lyrikerinnen bedeutungsvoll wurde.

Jede der rund fünfzehn buchlangen Whitman-Übersetzungen ins Deutsche präsentierte Whitmans Werk in einer Auswahl, die meist Schwerpunkte der jeweiligen Verlage und Übersetzer erkennen ließ. Die Publikation der gesamten in der Ausgabe letzter Hand (erschienen 1891/92) enthaltenen Lyrik Whitmans durch den Dortmunder Lyriker und Übersetzer Jürgen Brôcan unter dem Titel Grasblätter im Jahr 2009 war daher ein bedeutender Meilenstein in der übersetzerischen Whitman-Rezeption. Im Jahr 2022 erscheint beim Aachener Rimbaud-Verlag die Erstübersetzung der Erstausgabe von Whitmans Gedichten aus dem Jahr 1855. Im Laufe der 2010er Jahre haben 70 Studierende der Technischen Universität Dortmund an einem kollektiven Übersetzungsprojekt teilgenommen, das aus mehrfachen Übersetzungen und intensiven Überarbeitungen ein Werk entstehen ließ, das die vielen unterschied­lichen Erfahrungen, sprachlichen Horizonte und Ressourcen der Übersetzer*innen reflektiert. Dortmund ist ohne Zweifel ein Zentrum der deutschen Übersetzung und Rezeption Whitmans geworden.