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Graduate School on Political Cohesion

Drei Fragen an Selen Kazan zu ihrer Promotion über Wahrheitskommissionen

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Eine Frau lächelt in die Kamera. Sie steht vor einem Zaun. © Privat
Selen Kazan promoviert im Rahmen der Graduate School on Political Cohesion zu Wahrheitskommissionen.

Anfang 2020 wurde das neue universitätsübergreifende Promotionskolleg „Graduate School on Political Cohesion“ an der TU Dortmund und der Ruhr-Uni Bochum eingerichtet; Sprecher ist der Politikwissenschaftler Prof. Christoph Schuck von der TU Dortmund. Das Mercator Research Center Ruhr (MERCUR) fördert die Graduate School für drei Jahre mit insgesamt 550.000 Euro. Die Promovierenden können dort an der Schnittstelle von Philosophie und Politikwissenschaft mit internationalem Bezug forschen. Im Juli fand das erste Kolloquium statt, bei dem die Promotionsvorhaben vorgestellt wurden. Selen Kazan von der TU Dortmund beschäftigt sich in ihrer Doktorarbeit „The Relevance of Political Cohesion for Truth and Reconciliation Commissions“ im Rahmen der Graduate School mit Wahrheitskommissionen und Wiedergutmachung. Im Interview spricht sie über die Bedeutung solcher Kommissionen, ihre Forschungsarbeit und die Besonderheit des Promotionskollegs.

Frau Kazan, in Ihrer Promotionsarbeit geht es um Wahrheitskommissionen. Was machen solche Kommissionen?

Wahrheitskommissionen werden meist in Ländern eingeführt, in denen es bewaffnete Konflikte gab oder Menschenrechte verletzt wurden. Das bekannteste Beispiel ist sicher die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika, die in den 1990er-Jahren die Verbrechen während der Apartheid untersucht hat. Auch Länder wie Kanada und Mauritius setzen solche Kommissionen ein, um ihre koloniale Geschichte aufzuarbeiten. Darüber hinaus überlegen Australien und Neuseeland derzeit, Wahrheitskommissionen einzurichten, um sich mit den Verbrechen an den Aborigines auseinanderzusetzen. Aktuell wird auch in den USA im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung diskutiert, eine Wahrheitskommission einzurichten, um die Themen Sklaverei, institutioneller Rassismus und Diskriminierung von Afroamerikanern zu untersuchen.

Anders als bei strafrechtlichen Verfahren geht es nicht darum, die Täter zu verurteilen, sondern Opfern und Tätern die Möglichkeit zu geben, sich auszusprechen. Außerdem sollen die Opfer Gewissheit bekommen, was zum Beispiel mit ihren Familienangehörigen passiert ist. Um die Täter zu einer Aussage zu bewegen, wird ihnen im Austausch teilweise Immunität zugesichert. Grundsätzlich kann im Anschluss auch ein strafrechtlicher Prozess folgen. Wahrheitskommissionen beenden ihre Arbeit oft mit einem abschließenden Bericht. Darin wird beschrieben, was sich die Opfer als Wiedergutmachung wünschen und es werden Empfehlungen gegeben, wie die Gesellschaft oder die Regierung die Wiedergutmachungsschritte einleiten können.

Ihre Arbeit ist an der Schnittstelle von Philosophie und Politikwissenschaft angesiedelt. Was werden Sie genau erforschen und wie verbinden Sie die beiden Bereiche miteinander?

In meiner Doktorarbeit werde ich untersuchen, inwiefern politischer Zusammenhalt wichtig ist, um überhaupt eine Wahrheitskommission zu initiieren. Außerdem möchte ich herausfinden, ob die politische Einheit einer Gesellschaft durch die Arbeit einer Wahrheitskommission gefördert wird. Dafür werde ich empirisch messen, inwieweit diese Kommissionen in den einzelnen Ländern Erfolg hatten. Dabei sollen auch folgende Fragen geklärt werden: Wurden die Empfehlungen des Abschlussberichts umgesetzt? Wie ernst wurde die Arbeit der Kommission genommen?

Die Themen Wiedergutmachung und Versöhnung haben nicht nur eine politische, sondern auch eine philosophische Dimension: Kann man von den Opfern überhaupt verlangen, dass sie sich mit den Tätern versöhnen? Und ist das notwendig, um später in einer Gesellschaft zusammen zu funktionieren? Diese teils auch moralisch-ethischen Aspekte werde ich in meiner Dissertation herausarbeiten.

Sie forschen im Rahmen der Graduate School on Political Cohesion der Universitätsallianz (UA) Ruhr. Was ist für Sie das Besondere an der universitätsübergreifenden Graduate School?

Die Graduate School hat den Anspruch, interdisziplinär zu forschen, was meinem Thema entgegenkommt. Im Juli hatten wir unser erstes Kolloquium, das gleichzeitig auch der Auftakt der Graduate School war. Eigentlich war eine Veranstaltung an der Ruhr-Universität Bochum geplant, aber aufgrund der Corona-Pandemie wurde sie dann als Zoom-Meeting durchgeführt. Jede Doktorandin und jeder Doktorand hat sein Thema vorgestellt, anschließend konnten Fragen gestellt werden. Die betreuenden Professorinnen und Professoren waren auch dabei und haben Feedback gegeben. Insgesamt ist es einfach super, dass man sich gegenseitig austauschen kann und sieht, wie die anderen an die Arbeit herangehen.

Political cohesion, also politischer Zusammenhalt, ist ein sehr breit gefächerter Begriff und deswegen gibt es sehr unterschiedliche Dissertationsthemen. Jeder hat also seinen eigenen Bereich der Expertise und kann bei Fragen helfen. Es sind noch weitere Kolloquien geplant und wir wollen eine Summer School organisieren, für die wir selbst Lehrpersonen, die zu denselben Themen forschen, einladen können. Außerdem sind wir in der Gestaltung unserer Doktorarbeit sehr frei, die Vorgaben sind nur minimal. Zudem werden wir nicht nur fachlich gefördert: Einige – darunter auch ich – erhalten für drei Jahre eine finanzielle Förderung durch MERCUR.

Zur Person
Selen Kazan promoviert seit April im Rahmen der Graduate School on Political Cohesion zum Thema Wahrheitskommissionen und Wiedergutmachung. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft der TU Dortmund. Von 2019 bis 2020 forschte sie an der Universität Göttingen am Lehrstuhl für Strafrecht zu den Themen Völkerstrafrecht und Völkerrecht. Zuvor studierte sie im Bachelor „Politik und Recht“ an der Universität Münster und im Master „Public International Law“ an der Universität Leiden in den Niederlanden.

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