Demokratieverständnis bei Vorschulkindern untersucht
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Was haben Sie untersucht?
Prof. Norbert Zmyj: Meine Kollegen und ich haben analysiert, ob und ab welchem Alter Vorschulkinder das Mehrheitsprinzip verstehen und anwenden. Dazu haben wir 156 Kinder im Alter von 3, 4 und 5 Jahren getestet. In einer Einzel-Videokonferenz bekamen sie Geschichten präsentiert, in denen vier Kinder im Kita-Alter zwischen zwei Aktivitäten abstimmen konnten, zum Beispiel Ballwerfen oder Fußballspielen, immer mit einer 3:1-Mehrheit. Nach der Abstimmung sollten die teilnehmenden Kinder angeben, was die Gruppe tun sollte, und ihre Entscheidung begründen. Anschließend fällte die Erzieherin in der Geschichte eine Entscheidung, die mal der Mehrheit, mal der Minderheit folgte. Zusätzlich wurden die Eltern zu Partizipationsmöglichkeiten der Kinder in der Kita befragt.
Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Erst Fünfjährige wählten systematisch die von der Mehrheit bevorzugte Aktivität und begründeten ihre Wahl häufiger mit dem Mehrheitsprinzip. Drei- und Vierjährige orientierten sich eher an eigenen Vorlieben. Wenn die Erzieherin entschied, unterstützten Kinder aller Altersstufen ihre Entscheidung – unabhängig davon, ob diese der Mehrheit oder der Minderheit entsprach. Ein Zusammenhang zwischen Mehrheitsorientierung der Kinder und Partizipationserfahrungen in der Kita war nicht nachweisbar.
Was bedeutet das für die Demokratiebildung in Kitas?
Obwohl es bereits viele Programme zur Demokratiebildung in Kitas gibt, ist deren Effektivität nach gängigen Standards nicht überprüft. Zudem gab es bislang keine Studie, die untersuchte, ob Kinder im Kita-Alter überhaupt Grundprinzipien demokratischer Prozesse verstehen. Unsere Studie legt nahe, dass Kinder erst gegen Ende der Vorschulzeit beginnen, das Mehrheitsprinzip zu verstehen. Das wirft die Frage auf, wie und ob Kinder in der Kita Demokratiebildung überhaupt begreifen. Zwar können meiner Meinung nach Abstimmungen zu alltäglichen Belangen dort durchgeführt werden, jedoch sollte darauf geachtet werden, dass gerade jüngeren Kindern die Abstimmung genau erklärt wird und genügend Zeit für Fragen besteht. Maßnahmen zur Demokratiebildung in der Kita müssen durch kontrollierte Studien sorgsam überprüft werden, bevor sie flächendeckend eingesetzt werden. Bleibt diese Überprüfung aus, könnten möglicherweise unwirksame oder gar unabsichtlich demokratieschädliche Konzepte Anwendung finden. Das können wir uns nicht leisten.
Auf was müsste die Demokratiebildung außerdem achten?
Demokratische Abstimmungen und Wahlen bestehen in der Bundesrepublik aus mehr als nur dem Mehrheitsentscheid. Beispielsweise steht vor jeder Abstimmung oder Wahl die Debatte – und die setzt das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Toleranz gegenüber Andersdenkenden voraus. Wer von Demokratie spricht, darf auch den Rechtsstaat nicht vergessen, der die Demokratie ja auf vielfältige Weise einschränkt. Beispielsweise gelten Minderheitenrechte, die nicht durch die Mehrheit abgeschafft werden dürfen. Es ist sicherlich nicht einfach, diese Konzepte Kindern auf altersgerechte Weise näherzubringen. Allerdings muss dies der Anspruch von Demokratiebildung in der Kita sein. Es darf nicht der Eindruck entstehen, Demokratie beschränke sich auf Abstimmungen über Nebensächlichkeiten, während über alles andere die Erzieherin entscheidet. Beispielsweise könnten alle Kinder vor einer Abstimmung ermutigt werden, ihre Meinung zu äußern und anschließend über Vor- und Nachteile der verschiedenen Vorschläge zu diskutieren. Letztlich ist das aber auch nur eine unter mehreren Ideen zur Demokratiebildung, die überprüft werden müsste.
Seine Erkenntnisse hat das Team kürzlich in einer Studie in der internationalen Fachzeitschrift „Social Development“ veröffentlicht.
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