Streicheln oder Schlachten?
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Zahlreiche Menschen halten zu Hause Hunde, Katzen oder Reptilien. Viele essen Käse, Eier oder Fleisch – oder entscheiden sich bewusst dagegen. Einige von uns stellen im Winter Futter für die Meisen raus und ärgern sich im Frühjahr über Maulwurfshügel im Garten. Wir alle haben einen Bezug zu Tieren, dabei scheint Tier allerdings nicht gleich Tier zu sein.
Dr. Marcel Sebastian untersucht an der Fakultät Sozialwissenschaften im Bereich Umweltsoziologie mit Schwerpunkt Transformationsforschung diese komplexen Beziehungen. Er analysiert sowohl, wie die Gesellschaft andere Lebewesen kategorisiert – als Haus-, Nutz- oder Wildtier – als auch das Verhältnis, das aus dieser Kategorisierung hervorgeht: „Die Frage, was Tiere für den Menschen sind, ist für viele gar nicht so einfach zu beantworten: Sind sie als Lebewesen wertvoll? Darf man sie essen? Kurzum: Sind sie Subjekt oder Objekt?“, fragt Marcel Sebastian. „In meiner Forschung untersuche ich unter anderem die komplexen gesellschaftlichen Diskurse über diese Fragen.“
Der Umweltsoziologe kam 2010 zum ersten Mal mit der Wissenschaftskommunikation in Kontakt. Damals versendete die neu gegründete „Group for Society and Animals Studies“ (GSA) an der Universität Hamburg eine Pressemitteilung zu ihrem einst innovativen Vorhaben: Die GSA war deutschlandweit die erste soziologische Forschungsgruppe, die das Verhältnis von Menschen und anderen Lebewesen untersuchte. Inhaltlich ging es etwa um internationale Unterschiede im Tierschutzrecht, um Gewalt gegen Tiere sowie Fleischkonsum und -produktion.


Heute forscht Sebastian auch zu umweltsoziologischen Fragen, etwa zum Zusammenhang zwischen landwirtschaftlicher Tierhaltung und Klimawandel. Das Thema „Tiere“ gewinnt stetig an Bedeutung und Aufmerksamkeit: „Ich kommuniziere fast 95 Prozent meiner Forschungsthemen nach außen. Zu spezifischen Details, die nur fachwissenschaftlich interessant sind, fragt vielleicht niemand konkret nach – aber die Themen, zu denen ich forsche, sind medial relevant“, sagt Marcel Sebastian.
Als Beispiel nennt er das Schlachten von Hunden, das erst 1986 gesetzlich verboten wurde. Obwohl sich Politik, Zivilgesellschaft und Fleischindustrie über das Verbot einig waren, gab es schon damals ein fundamentales Problem, weil das geplante Verbot mit dem besonders hohen gesellschaftlichen Stellenwert von Hunden begründet wurde: Wenn einige Tiere deswegen nicht mehr geschlachtet werden dürfen, wo und warum wird dann die neue Grenze gezogen? So befürchteten Kritiker*innen, dass auch das Schlachten anderer Tierarten ethisch diskutiert werden würde.
„Auf den ersten Blick scheint das Thema gar nicht so relevant, weil es so lange her ist. Aber sobald wir verstehen, wie schwer es war, die Grenzen der Legitimität im Umgang mit Tieren zu verschieben, merken wir, wie aktuell es ist. Kaninchen oder Pferde sind heute ähnlich schwer einzuordnen. Sie können sowohl geliebte Haustiere als auch Schlachttiere sein – und hier wiederholt sich das Dilemma.“
Es gibt für Marcel Sebastian allerdings auch Aspekte seiner Arbeit, die für die Öffentlichkeit nicht relevant sind, etwa theoretische Hintergrundfragen und Forschungsmethoden. „Wir müssen sortieren und übersetzen“, sagt der Soziologe. „Wissenschaftler*innen haben ein Fachpublikum und eine öffentliche Bühne, die in meinem Bereich sehr groß ist, denn vielen Menschen sind Tiere sehr wichtig. Ich muss als Mediator entscheiden, was für die Gesellschaft interessant sein könnte im Hinblick auf die Mensch-Tier-Beziehung und was eine Erklärung braucht.“ Einige Fragen würden immer wieder gestellt, berichtet Sebastian: „Oft geht es zum Beispiel um die deutlichen Unterschiede im Umgang mit Haus- und Nutztieren. Da erkläre ich meistens erstmal die gesellschaftlichen Entwicklungen, die dazu geführt haben, dass einige Tiere heute Familienmitglieder und andere Ressourcen sind. Und ich spreche über die Entstehung der kulturellen Tierkategorien, mit denen Menschen den Beziehungen zu ihnen Sinn geben wollen. Man muss dabei den schmalen Grat zwischen Über- und Unterforderung des Publikums treffen.“
„Ich möchte mit einem diversen, fachfremden Publikum interagieren – denn genau darum geht es in der Wissenschaftskommunikation.“ Dr. Marcel Sebastian
Erklären, kommentieren, einordnen
Der Aufgabe, gesellschaftliche Aspekte einzuordnen, widmet sich Marcel Sebastian in den unterschiedlichsten Formaten: Neben Auftritten im TV, im Radio, bei YouTube und in Podcasts hat er bereits in zwei dokumentarischen Filmen mitgewirkt. Regelmäßig ist er außerdem als Experte in klassischen Print- und Online-Medien vertreten, zum Beispiel bei Magazinen wie Psychologie Heute, dem Spiegel oder Spektrum der Wissenschaft sowie bei diversen Tageszeitungen. Auch der britische Guardian fragte bereits bei dem Soziologen an und ebenso Organisationen, die sich für die Zivilgesellschaft einsetzen, etwa die Bundeszentrale für politische Bildung. Von der Schlachthofarbeit bis zur Frage, ob Haustiere Klamotten tragen sollten – Marcel Sebastian äußert sich zu vielen Aspekten rund ums Tier: „Ich erfülle bei diesen ganzen Anfragen verschiedene Funktionen. Ich vermittle zwischen Positionen, kommentiere, erkläre und ordne ein. Die Diskurse sind sehr vielfältig.“
Für Marcel Sebastian ist dabei nicht nur die Größe des Publikums wichtig, das er erreichen kann, sondern auch die einzelnen Individuen: Den Austausch mit Tiermediziner*innen und Metzger*innen beispielsweise findet er spannend, weil sie einer sehr speziellen, aber für seine Forschung wichtigen Gruppe angehören. „Ich möchte mit einem diversen und auch fachfremden Publikum interagieren – denn genau darum geht es schließlich in der Wissenschaftskommunikation.“
Marcel Sebastian folgt mit seinem Ansatz dem Prinzip der „Public Sociology“, der öffentlichen Soziologie, bei der es explizit um den Wissenstransfer zwischen Forschung und Öffentlichkeit geht. Damit zielt er auch darauf ab, die „soziologische Selbstaufklärung der Gesellschaft“ zu fördern und als Wissenschaftler eine Hilfestellung zu leisten: „Mein Ziel ist es, dass die Leute sich fundierte Fakten oder Perspektiven aneignen können, um anschließend selbst in den Diskurs über Mensch-Tier-Beziehungen einzusteigen“, so der Umweltsoziologe.
Dieses Ziel verfolgte Marcel Sebastian auch mit seinem populärwissenschaftlichen Sachbuch „Streicheln oder Schlachten: Warum unser Verhältnis zu Tieren so kompliziert ist – und was es über uns sagt“, das er 2022 veröffentlichte. Darin beleuchtet er soziologische Fragen rund um den Umgang mit Haus- und Nutztieren und diskutiert Themen wie das Wohl und die Rechte von Tieren, Umweltauswirkungen der Fleischindustrie und Nachhaltigkeit sowie moralische Verantwortung. Unter anderem analysiert er, warum der ungleiche Umgang mit verschiedenen Tierarten in den letzten Jahren mehr und mehr diskutiert wird oder was der Klimawandel oder die Corona-Pandemie über die Abhängigkeit der Menschen von Tieren zeigen können. Beim Schreiben des Buches zielte er darauf ab, dass die Leser*innen sich als Gesprächspartner ernstgenommen fühlen und merken, dass Forschende ihnen zutrauen, selbst zu denken und eine eigene Meinung zu formen. „Ich will, dass die Leute ihre eigene Position als politisches Subjekt erkennen und Lust bekommen, über diese Themen zu sprechen“, sagt er.

„Wann spreche ich als Soziologe, wann als Privatmensch?“
Forschende müssten also ihre Erkenntnisse an die Öffentlichkeit vermitteln, ohne sie gleichzeitig moralisch zu interpretieren und das Publikum so zu belehren. Hier liegt allerdings eine große Herausforderung: Denn wie transportiert man ein Thema, für das man sich selbst interessiert und zu dem man womöglich eine starke politische Meinung hat, objektiv? „Es ist ein schmaler Grat: Wir wollen Impulse setzen, ohne ideologisch zu werden – das ist in der Forschung generell nötig, um unvoreingenommen zu bleiben. Gleichzeitig bin ich aber auch der Ansicht, dass wir unsere Ergebnisse nicht hundertprozentig neutral kommunizieren können“, erklärt Marcel Sebastian. Forschende seien auch in dieser Funktion nicht frei von einem eigenen Standpunkt, der auch immer durch die eigene soziale Lage, Geschlecht, Religion oder andere demographische Faktoren beeinflusst werde. Deswegen sei es wichtig, die eigene Rolle sich selbst, Medienvertreter*innen und der Öffentlichkeit gegenüber klar zu benennen: „Wann spreche ich als Soziologe und berichte aus der Forschung, wann sage ich als Privatmensch meine Meinung?“
Forschende sollten sich dieser unterschiedlichen Rollenerwartungen bewusst sein, so Sebastian. Dafür sollten sie eine Sensibilisierung für ihre eigenen Themen entwickeln, um entscheiden zu können, wann fachlich fundierte Schlussfolgerungen präsentiert werden und wann die persönliche Ansicht zum Vorschein tritt. Immer wieder bekommt Marcel Sebastian beispielsweise die naheliegende Frage gestellt, ob er vegan lebe. Darauf antwortet er, dass er seit zwanzig Jahren auf tierische Produkte verzichte, weil er es persönlich nicht legitim finde, andere Lebewesen zu essen. Wird er allerdings generell gefragt, ob man Tiere essen darf, antwortet er als Soziologe und erklärt, dass diese Frage aus seiner soziologischen Sicht nicht sinnvoll sei. Eher müsse man fragen, unter welchen Bedingungen eine Gesellschaft eine bestimmte Art der Ernährung als angemessen empfindet und historische sowie kulturelle Faktoren miteinbeziehen.
„Wenn ich als Forscher meine private Meinung äußere, ohne diesen Rollenwechsel kenntlich zu machen, verstoße ich damit gegen wissenschaftliche Grundsätze“, erklärt er. „Ganz abgesehen davon, mache ich mich aber auch angreifbar – von der einen Gruppe, die sowieso schon meiner Meinung war, bekomme ich vielleicht Zustimmung. Von der anderen Gruppe bekomme ich hingegen Gegenwehr und verpasse die Chance, sie tatsächlich zum Nachdenken anzuregen.“
Marcel Sebastian aber möchte seine Forschungsergebnisse für alle Zielgruppen so aufbereiten, dass sie zu einem Handwerkszeug werden, um sich selbst in die Debatten einzumischen. Dafür vermittelt er sein Wissen, anstatt fertige Meinungen vorzusetzen. „In diesem Bereich habe ich als Soziologe ein schwieriges Thema, denn hier gibt es nicht die eine, von der Gesellschaft anerkannte Meinung, sondern pluralisierte Einstellungen. Genau deshalb können und sollten wir die Kommunikation fördern: Die Wissenschaft kann hier als Mediator fungieren und längst überfällige Debatten starten.“
Text: Nele Nafé
Zur Person:
Dr. Marcel Sebastian ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Umweltsoziologie mit dem Schwerpunkt Transformationsforschung an der Fakultät Sozialwissenschaften. Nach seinem Magisterabschluss erhielt er ein Promotionsstipendium der Heinrich-Böll-Stiftung, arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg und als akademischer Koordinator an der Europa-Universität Flensburg. Den Schwerpunkt seiner Forschung bilden gesellschaftliche Beziehungen zu Tieren, die er aus unterschiedlichen soziologischen Perspektiven untersucht. Neben seiner akademischen Tätigkeit veröffentlichte Sebastian im Jahr 2022 ein eigenes Sachbuch.

Dies ist ein Beitrag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dortmund.