Wenn Bildungsforschung zum Politikum wird
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Bundespressekonferenz am 16. Mai 2023 in Berlin: Prof. Nele McElvany trägt die Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) vor. Sie hat keine guten Nachrichten für die versammelten Journalist*innen: Immer mehr Viertklässler*innen in Deutschland können nicht richtig lesen. Rund ein Viertel hat nicht die nötigen Fähigkeiten für weiterführende Schulen. Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich weiterhin nur im Mittelfeld. Eine Trendwende ist nicht in Sicht, im Gegenteil:
Im Vergleich zum Beginn der IGLU-Untersuchungen im Jahr 2001 ist die Lesekompetenz in Deutschland seit 2006 kontinuierlich geringer. Besonders deutlich ist der Leistungsrückgang zwischen 2016 und 2021. An diesem Tag im Mai ist die Leiterin der IGLU-Studie von der TU Dortmund eine gefragte Gesprächspartnerin und vielzitierte Expertin: Tagesschau, Deutschlandfunk, Spiegel oder Zeit online – alle möchten mehr wissen über die Ursachen des schlechten Abschneidens. Sie wollen erfahren, warum hierzulande immer noch die sozialen und migrationsbedingten Unterschiede bei den Lesekompetenzen so hoch ausfallen und sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit in den letzten 20 Jahren praktisch nichts getan hat. Und vor allem wollen sie Handlungsempfehlungen der Expertin und ihres Teams vom Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS).


Nicht nur die Medien interessiert das: Lehrkräfte, Eltern, Verbände, die Administration und natürlich Politiker*innen in Bund und Ländern – Bildungsforschung ist für viele verschiedene Gruppen und Entscheidungsebenen relevant. „Diese breite Öffentlichkeit macht es etwas einfacher, Personen für unsere Forschungsthemen zu interessieren, als das in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung oder anderen Feldern mit weniger direkt ersichtlichem Alltagsbezug der Fall ist“, sagt McElvany. „Eine große Studie wie IGLU, aus der man Trends über Jahrzehnte ablesen, Vergleiche zu anderen internationalen Bildungssystemen anstellen und daraus konkrete Handlungsimplikationen ableiten kann, ist natürlich ein besonders interessantes Thema, um darüber auf breiter Ebene zu kommunizieren.“
Gestiegene Anforderungen an Kommunikation
Über eine ausbleibende Medienresonanz und ein fehlendes breites Interesse an ihrem Forschungsgebiet können die Expert*innen der TU Dortmund jedenfalls nicht klagen. Das ist einerseits positiv, bringt die Menschen hinter den Studien aber auch an ihre Grenzen. „Die Anforderungen an Wissenschaftskommunikation sind in den letzten Jahren immens gestiegen. Sie erfordern andere persönliche Kompetenzen und müssten auch mit entsprechenden personellen Ressourcen einhergehen. Diese sind aber bisher traditionell im universitären Wissenschaftsbetrieb überhaupt nicht vorgesehen“, konstatiert die Bildungsexpertin, die seit 2020 als Prorektorin Forschung der TU Dortmund in der Hochschulleitung tätig ist. Auch aus anderen Fakultäten höre sie ähnliche Stimmen.

Dr. Michael Männel, der am IFS die Kommunikation verantwortet, bekommt die gestiegenen Anforderungen ebenfalls deutlich zu spüren – nicht nur im zeitlichen Umfeld der Veröffentlichung großer Studien. „Da reservieren wir schon im Vorfeld Zeitfenster, um die zu erwartenden Anfragen bedienen zu können“, so der Wissenschaftsmanager. Am IFS wurde eine ganze Reihe von Formaten entwickelt, um die verschiedenen Zielgruppen zu erreichen. Da ist zum Beispiel der IFS-Bildungsdialog: „In diesem Angebot geht es uns darum, Menschen aus Bildungspraxis, Administration, Verbänden und Politik zusammenzubringen, um den Austausch über verschiedene Themen mit der Wissenschaft anzuregen“, erklärt Männel.
An die wissenschaftliche Community richten sich das „Dortmunder Symposium der Empirischen Bildungsforschung“ oder auf internationaler Ebene die „IFS Virtual Keynote Series“. Für den Transfer der Forschung in die schulische Praxis hat sich das „IFS Praxisportal“ als gefragte Plattform etabliert. Männel: „Hier geben wir regelmäßig Praxisempfehlungen, die aus unseren aktuellen Projekten abgeleitet werden, und stellen Material zur Verfügung, das im Unterricht eingesetzt werden kann.“ Auch über einen engen Austausch mit dem bei Lehrkräften beliebten Portal „News-4Teachers“ erreicht das Institut diese Zielgruppe.
In regelmäßigem Kontakt ist Männel darüber hinaus mit Wissenschafts-journalist*innen unterschiedlicher Medien. Schließlich nutzt das IFS auch die Plattformen X und LinkedIn – zunächst jedoch nur, um Informationen aus der Dortmunder Bildungsforschung an die interessierte Öffentlichkeit zu bringen. Um eigene Debatten anzuregen und zu begleiten, fehlten einfach die zeitlichen Ressourcen, so Männel.
„Bei der Veröffentlichung großer Studien reservieren wir im Vorfeld Zeitfenster, um die zahlreichen Anfragen bedienen zu können.“ Dr. Michael Männel
Mit Multiplikator*innen Studienergebnisse vertiefen
Ein noch junges Format sind „Tuesdays for Education“ – eine Online-Veranstaltungsreihe, die sich vielfältigen Themen im schulischen Bildungsbereich und insbesondere der Grundschule und der Kompetenzdomäne Lesen widmet. Einmal im Monat kommen im Webinar bis zu 60 Multiplikator*innen aus ganz Deutschland zusammen – von Lehrkräften über Journalist*innen bis zu Vertreter*innen aus Ministerien und Bildungsinstituten. „Die IGLU-Studie rückt im öffentlichen Bewusstsein schnell wieder in den Hintergrund, und meist stehen nur die zentralen Ergebnisse für eine kurze Zeit im Fokus. Dabei gibt es viele relevante Einzelergebnisse, die es zu vertiefen lohnt“, erklärt IGLU-Projektleiterin Privatdozentin Dr. Ramona Lorenz, die das Webinar betreut.
So geht es an einem Dienstagnachmittag um „Unterricht und Lesezeit“, an einem anderen um „Zuwanderung und Familiensprache“ und an einem weiteren Termin um „Erfahrungen mit physischer Gewalt an Grundschulen“ – eingeführt jeweils durch einen allgemeinverständlichen Kurzbericht mit den wichtigsten Ergebnissen aus der aktuellen Forschung, der online öffentlich verfügbar bleibt. Neben der fundierten Information stehen Austausch und Partizipation im Mittelpunkt. Die Teilnehmenden können Rückfragen stellen, Ideen aus der Praxis beisteuern und Problemlösungen vorschlagen. Deshalb findet Lorenz „Tuesdays for Education“ und andere dialogische Formate auch in eigener Sache wertvoll: „Wir bekommen in diesen Veranstaltungen ein wichtiges Feedback aus der Praxis und auch neue Impulse für unsere Forschung.“
Politikberatung als Gratwanderung
Nele McElvany ist Wissenschaftlerin, aber naturgemäß sind die Befunde der Bildungsforschung immer auch ein Politikum. Häufig wird sie deshalb auch um politische Aussagen gebeten. „Das ist tatsächlich eine Gratwanderung“, gibt die Expertin zu. Sie hält es für eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft, die Politik auf Basis fundierter Daten zu informieren und zu beraten, Debatten einzuschätzen und sich auch dazu zu äußern. „Aber entscheidend dabei ist, in der eigenen Rolle zu bleiben“, betont die Bildungsforscherin. So bleibt McElvany auch gelegentlich eine Antwort schuldig: „Ich sage dann: Das ist eine gute und wichtige Frage, aber dazu kann ich ohne empirische Befunde aktuell keine fundierte Einschätzung abgeben.“
Als McElvany in der Bundespressekonferenz die Ergebnisse der IGLU-Studie vorstellte, hatten die Bildungsminister*innen auf Bundes- und Landesebene bereits ihre Statements für die Presse vorbereitet. IGLU ist Teil des offiziellen Bildungsmonitorings in Deutschland. Nicht nur die Beauftragung der Studie, auch die Vorbereitung der Ergebniskommunikation geschieht in Abstimmung mit der Politik, die vorab über die Ergebnisse informiert wird. So konnte NRW-Bildungsministerin Dorothee Feller noch am selben Tag ihre Maßnahme verkünden, mit der sie auf die schlechten Lesekompetenzen reagierte: Drei mal 20 Minuten Lesezeit pro Woche sollten mit Beginn des Schuljahres 2023/24 an den Grundschulen in Nordrhein-Westfalen verbindlich werden.
„Das mussten wir tatsächlich sehr häufig kommentieren, weil es in engem Zusammenhang mit den Ergebnissen der IGLU-Studie steht und auch, weil Frau Feller nicht die einzige Bildungsministerin ist, die jetzt diese oder eine ähnliche Regelung in dem Kontext eingeführt hat“, erläutert McElvany. Die Studie belege grundsätzlich die Richtigkeit solcher Ansätze. „Die Kinder brauchen mehr Zeit, um lesen zu lernen. Dazu gehört: üben, üben, üben, bis die Leseprozesse auf Wort-, Satz- und Textebene automatisiert sind“, so die Leiterin der Studie. Entscheidend sei aber am Ende, wie der zeitliche Rahmen gefüllt werde: „Was man mit der Zeit macht, kann sinnvoll und nicht sinnvoll sein. Wie häufig im Leben kommt es dann auf das Detail der Umsetzung an und auf die Qualität dessen, was im Unterricht passiert.“

Die IGLU-Studie findet alle fünf Jahre statt. Dass nach der Veröffentlichung der Ergebnisse im Mai letzten Jahres erstmal etwas Ruhe eingekehrt ist, kann McElvany nicht bestätigen: „Einige Monate danach kam schon PISA und kurz darauf das Startchancen-Programm der Bundesregierung, bei dem wir beratend eingebunden waren. Jetzt wird der Digitalpakt diskutiert. In Bildungsfragen ist einfach zu viel los, als dass wir uns über einen längeren Zeitraum aus der Öffentlichkeit zurückziehen könnten. Und das wollen wir auch gar nicht.“
Text: Christiane Spänhoff
Zu den Personen:
Dies ist ein Beitrag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dortmund.
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