Kurzsichtigkeit bleibt bei Schüler*innen oft unentdeckt
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Das Tafelbild im Unterricht war verschwommen oder auf dem Schulweg konnte man die Straßenschilder erst viel später als zuvor lesen – so oder so ähnlich schildern viele Kurzsichtige, wie sie ihre Fehlsichtigkeit zuerst bemerkt haben. Tatsächlich entwickelt sich eine nicht angeborene Kurzsichtigkeit häufig zwischen dem achten und 14. Lebensjahr, weshalb sie auch Schulmyopie genannt wird. Sie entsteht, weil der Augapfel eine Spur größer gewachsen ist, sodass im Augeninneren die Lichtstrahlen nicht mehr exakt auf der Netzhaut, sondern schon davor gebündelt werden und nur noch ein unscharfes Bild erzeugen. Eine Schulmyopie kann sich unter Umständen sogar bis ins junge Erwachsenenalter noch verstärken.
„Eines der Hauptsignale für den Körper, das Wachstum des Augapfels zu hemmen, ist helles Licht“, erklärt Prof. Sarah Weigelt, Leiterin des Fachgebiets Sehen, Sehbeeinträchtigung & Blindheit an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften. „Auch bei guter Beleuchtung kommen wir in Räumen auf 350 bis 500 Lux, während es draußen selbst an trüben Wintertagen um die 10.000 Lux sind. Angeregt wird das Wachstum des Augapfels dagegen unter anderem durch Naharbeit, also wenn wir über längere Zeit etwas konzentriert in unmittelbarer Nähe mit den Augen fixieren müssen, beispielsweise am Computerbildschirm oder im Schulheft.“ Wissenschaftler*innen vermuten daher, dass neben biologischen Ursachen auch Umweltfaktoren eine Rolle dabei spielen können, dass sich eine Kurzsichtigkeit entwickelt.

Großes Screening durchgeführt
Forschende haben festgestellt, dass die Zahl kurzsichtiger Menschen weltweit seit Jahrzehnten stark zunimmt. In Südostasien sind bereits bis zu 90 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen betroffen. Auch in Europa wurde ein Anstieg festgestellt und für Forschende gibt es erste Hinweise, die darauf deuten, dass die Kurzsichtigkeit während der Coronapandemie noch schneller zugenommen haben könnte. Um eine wissenschaftliche Basis für mögliche Präventionsmaßnahmen zu schaffen, haben Prof. Weigelt und ihr Team in einem großen Screening an zehn Schulen rund 1.500 Schüler*innen an den Rändern des Altersspektrums, in dem Schulmyopie auftritt, untersucht. Teil der Studie waren die dritten und vierten Klassen von sechs Grundschulen sowie die Klassen acht bis zehn von jeweils einer weiterführenden Schule je Schulform.
Während durchschnittlich rund acht Prozent der untersuchten Dritt- und Viertklässler*innen von Kurzsichtigkeit betroffen waren, stieg der Anteil in den höheren Jahrgangsstufen deutlich: Von fast zwölf Prozent der Schüler*innen in der achten Klasse auf über 21 Prozent in der neunten und sogar 25,7 Prozent in der zehnten Klasse. Somit war also ungefähr jede*r vierte Zehntklässler*in kurzsichtig. Die Ergebnisse zeigen zudem, dass Mädchen schon ab der vierten Klasse häufiger als Jungen betroffen sind und sich dieser Geschlechterunterschied mit steigender Jahrgangsstufe verstärkt. Dabei könnte laut den Forschenden beispielsweise auch eine Rolle spielen, dass die Lern- und Naharbeit bei Mädchen oft stärker vom sozialen Umfeld betont wird, als bei Jungen.
Unentdeckte Fehlsichtigkeit stark verbreitet
„In unserem Screening haben wir außerdem festgestellt, dass die Kurzsichtigkeit bei rund der Hälfte der betroffenen Schülerinnen und Schüler zuvor noch unentdeckt war“, berichtet Prof. Sarah Weigelt. „Das ist besorgniserregend, denn eine unkorrigierte Kurzsichtigkeit wirkt sich negativ auf ihre Lernleistung und somit ihre Berufsmöglichkeiten aus und kann sogar zu späteren gesundheitlichen Komplikationen führen.“ Einigen der untersuchten Jugendlichen sei zwar bereits aufgefallen, dass sie nicht so gut sehen konnten. Aber sie erzählten den Forschenden auch, dass sie keine Sehhilfe wie eine Brille oder Kontaktlinsen tragen wollten – meist aus Sorge um ihr Aussehen und darum, wie andere reagieren würden. Zukünftige Präventionsmaßnahmen könnten daher unter anderem an Schulen und bei Peer Groups ansetzen, zum Beispiel durch regelmäßige Sehtests und Bildungsangebote, die auf die Bedürfnisse der Jugendlichen zugeschnitten sind.
Das Team stellte in seinem Screening zudem leichte Unterschiede zwischen den Schulen fest: An Grundschulen mit einem niedrigen Sozialindex war der Anteil unkorrigierter Kurzsichtigkeit rund 22 Prozent geringer als an Schulen mit höherem Index. Der Schulsozialindex bildet die Zusammensetzung der Schülerschaft einer einzelnen Schule ab: Je höher der Index ist, desto höher sind die Schulen sozial herausgefordert, beispielsweise durch Kinderarmut in ihrem Einzugsgebiet. Zugleich war am teilnehmenden Gymnasium der Sprung des Anteils kurzsichtiger Schüler*innen zwischen den einzelnen Klassenstufen am stärksten ausgeprägt. „Die komplexen Zusammenhänge zwischen Sozialindex, Schulform und Kurzsichtigkeit sollten daher in größeren Studien weiter untersucht werden“, sagt Prof. Weigelt. „Möglicherweise könnten auch sie wichtige Hinweise für die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen liefern, damit die Kurzsichtigkeit von Schüler*innen frühzeitig entdeckt und korrigiert werden kann.“
Die Studie des Fachgebiets Sehen, Sehbehinderung und Blindheit wurde in einer Ausgabe des Fachjournals „Frontiers in Medicine“ zur Kurzsichtigkeit bei Kindern und Jugendlichen veröffentlicht.
Zur Publikation in Frontiers in Medicine
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