Im Netz aus Wissenschaft, Medien und Politik
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Erdkabel, oberirdische Hochspannungsleitungen, Gleichstromtrassen: Ein Netz aus Stromleitungen zieht sich durch Europa. Rund 35.000 Kilometer lang ist allein das Übertragungsnetz in Deutschland: Hier wird Strom über große Strecken transportiert, von Offshore-Windparks in der Nordsee bis zu Industriestandorten wie dem Ruhrgebiet und Regionen in Süddeutschland. Regionale und lokale Verteilnetze geben den Strom anschließend an Krankenhäuser, Fabriken oder private Haushalte weiter – bis er in der Kaffeemaschine und im Elektroauto angekommen ist. Photovoltaikanlagen oder kleinere Kraftwerke speisen gleichzeitig wieder Strom in das Verteilnetz ein.
„Die Energiewende bringt neue Herausforderungen mit sich“, sagt Prof. Christian Rehtanz. „Quellen erneuerbarer Energie wie Windkraft oder Photovoltaik liefern vor allem Strom. Aber nicht überall weht gleich viel Wind, Strom muss also von Regionen mit großen Windparks in Regionen mit großem Energiebedarf transportiert werden. Es gibt Tage, an denen es wolkig und windstill ist, und auch an diesen Tagen laden Menschen ihre Elektroautos auf oder schalten ihre Wärmepumpen ein. Das Energiesystem muss mit solchen Veränderungen zurechtkommen.“ Rehtanz leitet das Institut für Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft (ie3) an der Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik. Als Professor für Energiesysteme und Energiewirtschaft erforscht er, wie der Energiebedarf in Zukunft CO2-neutral gedeckt werden kann.
Die Energiewende ist für Rehtanz ein wichtiges Thema, über das er deswegen auch mit Bürger*innen, Politiker*innen und Journalist*innen spricht. „Meine Forschung interessiert mich: Damit verbringe ich den ganzen Tag, und manchmal Teile des Wochenendes“, sagt Rehtanz. „Mein Wissen möchte ich auch mit einer breiteren Öffentlichkeit teilen.“
ie3-Forschende entwickeln intelligente Netztechnologien
Rehtanz beschäftigt sich sowohl mit den großen Stromnetzen auf nationaler und europaweiter Ebene als auch mit lokaleren Verteilnetzen. Ein Forschungsschwerpunkt von ihm ist, wie solche Netze durch Digitalisierung effizienter überwacht und gesteuert werden können. Gemeinsam mit seinen Kolleg*innen entwickelt er zum Beispiel intelligente Netztechnologien, mit denen Verteilnetze automatisch geregelt werden können. Ein konkretes Forschungsergebnis ist Smart4Grid: eine kleine, etwa 30 Zentimeter große Box, die in Trafostationen eingebaut werden kann. Smart4Grid registriert, wenn das Netz überlastet ist, etwa weil zu viele Elektroautos gleichzeitig geladen werden oder zu viel Solarstrom eingespeist wird.

Die Dortmunder Wissenschaftler*innen haben zunächst die Software entwickelt, von der ersten Idee über die Modellierung bis hin zu Laborexperimenten. In Zusammenarbeit mit Industriepartnern ist daraus ein fast marktreifer Prototyp entstanden, der nun in ersten Pilotprojekten eingesetzt werden kann. Einen Blick auf das gesamte Energiesystem ermöglicht MILES, ein Modell des europäischen Strommarktes und Übertragungsnetzes. „MILES ist so etwas wie unsere Glaskugel für die Energiewende. Wir können damit unterschiedliche Szenarien simulieren und testen, was technisch benötigt wird, um Deutschland und Europa in der Zukunft ausschließlich mit erneuerbarer Energie zu versorgen“, sagt Rehtanz. Mit MILES können die Forschenden zum Beispiel untersuchen, wie die Verteilung von Windkraftwerken in Zukunft sein könnte, um eine bestimmte Menge an Energie zu erzeugen: Das Modell enthält Wetterdaten sowie Informationen über die regionale Landnutzung, also wie bebaut eine Fläche ist oder ob dort ein Wald wächst. Ebenso lässt sich simulieren, wo wie viel Photovoltaikstrom produziert werden kann, wie sich der Bau neuer Gaskraftwerke auf das Stromnetz auswirkt, oder wie sich die Gesamtkosten der Energieversorgung entwickeln. MILES kommt damit auch in der Beratung zum Einsatz: Zum Beispiel haben die Wissenschaftler*innen mehrfach im Auftrag der Bundesnetzagentur den deutschen Netzentwicklungsplan überprüft. Dieser legt dar, wie das Stromnetz in den nächsten zehn Jahren ausgebaut werden muss.


Warum der Dialog mit Bürger*innen wichtig ist
Gerade beim Thema Energiewende findet Rehtanz es wichtig, mit Bürger*innen zu sprechen. Manchmal geht es darum, Zusammenhänge zu erklären: „Viele Menschen würden die Stromversorgung zum Beispiel am liebsten dezentral in ihren jeweiligen Gemeinden regeln. Aber gerade erneuerbare Energien sind nicht immer und überall gleichmäßig verfügbar. Nur ein großes, auch europaweites Energiesystem bringt Versorgungssicherheit und nutzt erneuerbare Energien optimal“, sagt Rehtanz.
Gleichzeitig sind Bedenken von Bürger*innen wichtig für Wissenschaft und wissenschaftsbasierte Entscheidungen. „Für technische Lösungen muss immer auch deren Akzeptanz berücksichtigt werden. Öffentliche Diskussionen machen die Bandbreite möglicher Argumente sichtbar und zeigen, welche Lösung am akzeptabelsten ist.“ Etwa bei der Frage, ob die Stromautobahnen, die Windenergie von Norden nach Süden transportieren, unter- oder oberirdisch verlegt werden sollen: Oberirdische Leitungen sind kostengünstiger, aber gegen Erdkabel gibt es weniger öffentlichen Widerstand. Rehtanz und sein Team arbeiten deswegen auch mit Soziolog*innen zusammen, um herauszufinden, auf wie viel Zustimmung bestimmte Technologien stoßen oder wann Erklärungen helfen, um die Akzeptanz zu steigern.
„Ich kann eine fundierte Aussage nur dann innerhalb weniger Stunden treffen, wenn ich mich in dem Thema auskenne. Sonst überlasse ich die Anfrage Kolleg*innen aus anderen Bereichen.“ Prof. Christian Rehtanz
Vor allem zu aktuellen Anlässen bekommt Rehtanz Anfragen von Journalist*innen: wenn die Bundesregierung eine neue Kraftwerksstrategie vorstellt, die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet werden, das Heizungsgesetz in Kraft tritt oder über die Gefahr von Blackouts diskutiert wird. Rehtanz versucht fast immer, ein Gespräch möglich zu machen. Manchmal organisiert er für ein Interview oder einen Fernsehdreh kurzerhand seinen Kalender um. „Seitdem ich 2007 meine Professur in Dortmund angetreten habe, ist die Energiewende zunehmend zu einem öffentlichen Thema geworden“, sagt Rehtanz. Meistens kommen die Diskussionspunkte aus der Politik. Das mache es schwerer, eigene Themen zu setzen, so Rehtanz: „Gerade wird zum Beispiel viel über Wasserstoff gesprochen, dabei ist das nur ein Baustein der Energiewende. Wir müssen auch die Digitalisierung des Energiesystems weiter vorantreiben.“
Für die Kommunikation mit Journalist*innen nutzt Rehtanz gerne das Science Media Center Germany. Die unabhängige Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, Medienschaffende bei der Berichterstattung mit Wissenschaftsbezug zu unterstützen, etwa indem zu aktuellen Themen Statements von relevanten Expert*innen gesammelt werden.

Wissenschaft und Journalismus vor unterschiedlichen Herausforderungen

„Für mich als Wissenschaftler hat das den Vorteil, dass ich mir mein Statement in Ruhe überlegen kann. Ich muss zudem keine Angst haben, dass Aussagen aus dem Kontext gerissen werden – das ist mir alles schon passiert“, sagt Rehtanz. Dabei sind oft unterschiedliche Anforderungen ein Problem: Journalist*innen brauchen schnell Auskunft und müssen komplizierte Themen herunterbrechen, Wissenschaft hingegen braucht Zeit. Für Rehtanz bedeutet das, auch zu wissen, wo die eigene Expertise endet: „Ich kann eine wissenschaftlich fundierte Aussage nur innerhalb von ein paar Stunden treffen, wenn ich mich in dem Thema genau auskenne. Ist das nicht der Fall, ist es meist besser, die Frage Kolleg*innen aus anderen Fachbereichen zu überlassen.“
Die Energiewende ist nicht nur ein Forschungs-, sondern auch ein politisches Thema – eine Gratwanderung, die nicht immer leicht sei, sagt Rehtanz. „Ich versuche, strikt zwischen Meinung und wissenschaftlich fundierter Aussage zu unterscheiden: Ich bin natürlich ein Bürger und habe eine Meinung zu politischen Entscheidungen, aber die hat in der öffentlichen Kommunikation nichts verloren. In meiner Rolle als Experte geht es darum, wissenschaftsbasierte Aussagen zu treffen.“ Das kann zum Beispiel bedeuten, Vor- und Nachteile unterschiedlicher technischer Lösungen aufzuzeigen und die Entscheidung der Politik zu überlassen. Gibt es zu einem Problem keinen wissenschaftlichen Konsens, ist es wichtig, abweichende Positionen darzustellen.
Rehtanz spricht deswegen mit Politiker*innen aus allen Parteien, solange sie demokratisch und nicht radikal sind. „Das ist nicht nur wichtig, um politisch neutral zu bleiben. Jede Partei hat ein anderes Klientel, andere Sorgen und Nöte, und andere Weltbilder. Solche Faktoren haben Auswirkungen auf die Frage, wie die Energiewende in der Praxis realisiert werden kann.“
Ob in die Industrie, in die Politik, oder in die Öffentlichkeit: Wissenschaft funktioniert nicht ohne Kommunikation nach außen, glaubt Rehtanz – aber sie profitiert oft auch davon.
Text: Hanna Metzen
Zur Person:
Prof. Christian Rehtanz ist seit 2007 Professor für Energiesysteme und Energiewirtschaft an der Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik. Er leitet das Institut für Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft (ie3). Rehtanz studierte Elektrotechnik an der TU Dortmund, wo er 1997 auch promovierte. 2002 wurde er an der ETH Zürich habilitiert. Zwischen 2000 und 2007 war er für den Energie- und Automatisierungskonzern ABB in leitenden Positionen mit Stationen in der Schweiz und in China tätig. Seine wissenschaftlichen Arbeiten umfassen die Entwicklung zukünftiger Energiesysteme zur Nutzung erneuerbarer Energiequellen und damit verbundene Systemuntersuchungen zur Stabilität der Netze, des Netzausbaubedarfs sowie der Netz- und Systemsteuerung.

Dies ist ein Beitrag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dortmund.