Den Herausforderungen des demografischen Wandels begegnen
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Wenn es um das Thema alternde Gesellschaften geht, kann Prof. Martina Brandt einen Begriff nicht mehr hören: Überalterung. „Der demografische Wandel wird oft als ein Drohszenario dargestellt“, sagt sie. „Doch die Annahme, dass eine bestimmte Zusammensetzung der Bevölkerung besser oder schlechter wäre als eine andere, trifft nicht zu. Es geht nur darum, gut mit den jeweiligen Gegebenheiten umzugehen.“ Genau hier liegt Brandts Forschungsschwerpunkt: Als Professorin für Sozialstruktur und Soziologie alternder Gesellschaften erforscht sie, wie Politik und Gesellschaft die Folgen des demografischen Wandels konstruktiv gestalten können.enn es um das Thema alternde Gesellschaften geht, kann Prof. Martina Brandt einen Begriff nicht mehr hören: Überalterung. „Der demografische Wandel wird oft als ein Drohszenario dargestellt“, sagt sie. „Doch die Annahme, dass eine bestimmte Zusammensetzung der Bevölkerung besser oder schlechter wäre als eine andere, trifft nicht zu. Es geht nur darum, gut mit den jeweiligen Gegebenheiten umzugehen.“ Genau hier liegt Brandts Forschungsschwerpunkt: Als Professorin für Sozialstruktur und Soziologie alternder Gesellschaften erforscht sie, wie Politik und Gesellschaft die Folgen des demografischen Wandels konstruktiv gestalten können.
„Wir analysieren, wo Veränderungsbedarf besteht und wie sich das Wohlbefinden für alle sichern lässt, egal ob jung oder alt“, erklärt sie. Brandts Forschung kann somit entscheidende Beiträge für die Zukunft unserer Gesellschaft leisten. Die Soziologin sieht darin auch eine Verpflichtung, ihre Ergebnisse an die Öffentlichkeit zu tragen. Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit ist deshalb die Politikberatung. Unter anderem ist sie Vorsitzende der Sachverständigenkommission für den aktuellen Altersbericht der Bundesregierung. „Wir beschreiben die aktuelle Situation aus wissenschaftlicher Sicht, beispielsweise in Bezug auf die Wohnsituation älterer Menschen, Altersarmut, Bildung und viele andere Faktoren“, erklärt Brandt. „Dann versuchen wir, fachlich fundierte Erklärungen zu finden und schließlich Handlungsempfehlungen abzuleiten. Deren Umsetzung liegt dann nicht mehr in unseren Händen, aber wir können mit unserer Forschung Hinweise geben.“
Die Grundlage für die jeweiligen Handlungsempfehlungen bilden detaillierte Studien. Dabei betrachten Brandt und ihr Team unter anderem regionale Modellprojekte – beispielsweise für eine bessere Pflegeinfrastruktur oder ein fruchtbares Zusammenleben der Generationen – oder finden unter anderem mit Befragungen und statistischen Analysen heraus, ob bestimmte Maßnahmen das gewünschte Ziel erreichen. Zudem ziehen die Forschenden internationale Vergleiche: Wie gehen andere Länder mit dem demografischen Wandel um? Welche Ideen gibt es, damit Menschen auch im Alter gesundheitlich und finanziell gut versorgt sind? „Natürlich hat jedes Land und jede Region eigene Besonderheiten, sodass sich die jeweiligen Ansätze nicht einfach übertragen lassen“, sagt Brandt. „Aber der Blick über den Tellerrand hilft, um eigene Lösungen zu entwickeln, die dann vielleicht wieder zum Vorbild für andere werden können.“
Gesellschaftliches Umdenken
Von großer Bedeutung sind dabei auch die Vorstellungen, die in der Gesellschaft zum Thema Altern verbreitet sind. Klassische Rollenverteilungen für junge und alte Menschen, Männer und Frauen passen in vielen Fällen nicht mehr zur Realität. Dank der steigenden Lebenserwartung bleibt den Menschen nach Eintritt ins Rentenalter durchschnittlich mehr Lebenszeit – und durch eine gute Gesundheitsversorgung fühlen sie sich länger fit und sind gerne weiter aktiv. Manche entscheiden sich, länger in ihrem Beruf zu arbeiten, manche engagieren sich ehrenamtlich und wieder andere nutzen die gewonnene freie Zeit, um die Welt zu entdecken oder sich verstärkt ihrer Familie zu widmen. Die steigende Lebenserwartung eröffnet damit sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene viele neue Chancen. „In vielen Medienberichten zum Thema demografischer Wandel kommen die positiven Aspekte zu kurz“, meint Brandt.



Doch auch in Bezug auf die Herausforderungen – etwa im Pflegesystem – ist aus Brandts Sicht ein öffentliches Umdenken erforderlich. „Der demografische Wandel ist absolut keine Überraschung. Dass die Babyboomer irgendwann in Rente gehen, wusste man seit Jahrzehnten. Auch den Fachkräftemangel, steigende Pflegebedarfe und sinkende Pflegepotenziale konnte man seit langem absehen. Trotzdem setzen wir uns erst jetzt, wo es akut wird, als Gesellschaft damit auseinander“, sagt sie. Dabei haben wir oft noch veraltete Vorstellungen im Kopf. „Bisher setzen wir beispielsweise im Bereich Pflege sehr auf die Angehörigen, meist Frauen. Aber die Möglichkeiten und der Wille bei Frauen, der Pflegedienst der Nation zu sein, nehmen immer mehr ab. Wir brauchen also neue Lösungen.“
„Politik und Medien wünschen sich plakative Aussagen und einfache Lösungen. Mit der wissenschaftlichen und sozialen Realität hat das wenig zu tun.“ Prof. Martina Brandt
Um neben der Politik auch die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sensibilisieren, ist Brandt regelmäßig in Publikumsmedien präsent. Sie schreibt Gastbeiträge für Zeitungen, gibt Interviews im Radio und steht Medienschaffenden als Ansprechpartnerin zur Verfügung, um aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen einzuordnen, über eigene Forschungsprojekte zu berichten oder eine wissenschaftliche Perspektive zu lokalen Projekten zu bieten. „Ich lehne eigentlich keine inhaltlich passende Anfrage ab“, sagt Brandt. „Neben Forschung und Lehre und meiner Arbeit in fachlichen Kommissionen ist das oft eine Herausforderung und mein Tag dürfte gerne doppelt so viele Stunden haben. Aber ich halte es für wichtig, nicht einfach im Elfenbeinturm zu forschen, sondern die Ergebnisse nach außen zu tragen.“
Transfer in die Praxis
Dortmund ist laut Brandt dabei gleich in mehrfacher Hinsicht besonders gut geeignet für einen Transfer der Forschungsergebnisse. Zum einen sind der Altersdurchschnitt und die Diversität im Ruhrgebiet höher als in den meisten anderen Teilen Deutschlands. So haben die sozialen Dienste der Stadt bereits viele Konzepte entwickelt, um die Teilhabe von Senior*innen an der Gesellschaft zu fördern. Zum anderen ist der Forschungsbereich „Alternde Gesellschaften“ an der TU Dortmund seit langem gut etabliert – unter anderem mit einem eigenen Masterstudiengang und seit 2023 mit einem neuen Promotionskolleg. „Dortmund ist Vorreiter auf dem Gebiet demografischer Wandel und Altern“, sagt Brandt. „Das spiegelt sich auch darin, dass das Kompetenzfeld demografischer Wandel in den Masterplan Wissenschaft der Stadt Dortmund aufgenommen wurde.“ Als Sprecherin dieses Feldes möchte sie dazu beitragen, die Lebensbedingungen verschiedener Generationen umfassender zu verstehen und auf dieser Grundlage zu verbessern.



Ein wichtiger Aspekt dabei ist, Ungleichheiten zu erkennen und zu reduzieren. „Bisher hat der sozioökonomische Status einen großen Einfluss darauf, wie wir altern“, erklärt Brandt. Viele Ungleichheiten durchziehen das gesamte Leben. Wer in ein reiches Elternhaus geboren wird, hat statistisch bessere Chancen auf einen hohen Bildungsabschluss und einen gut bezahlten Job, pflegt eher einen gesundheitsförderlichen Lebensstil, nimmt Präventionsangebote wahr und hat somit gute Aussichten auf viele gesunde Lebensjahre. Menschen mit niedrigerem sozioökonomischem Status dagegen sind nicht nur deutlich häufiger von Altersarmut bedroht, sondern werden oft auch früher pflegebedürftig. „Anders als beispielsweise in skandinavischen Ländern sind politische Diskussionen in Deutschland oft vom Gedanken des Statuserhalts geprägt“, sagt Brandt. „Das führt dazu, dass ausgerechnet die sozial schwächsten Gruppen in vielen Fällen weniger Hilfe bekommen als sie bräuchten.“ Gezielte Interventionen, die Risikogruppen identifizieren und besonders unterstützen, könnten dazu beitragen, solche Ungleichheiten abzubauen. „Davon würden wir alle profitieren“, sagt Brandt.
Ein Patentrezept kann und will sie allerdings nicht liefern. „Sowohl die Politik als auch die Medien wünschen sich meist klare, plakative Aussagen und einfache Lösungen“, sagt sie. „Mit der wissenschaftlichen und sozialen Realität hat das oft wenig zu tun.“ Denn Forschung ist stets mit Unsicherheiten behaftet. Gerade in der Soziologie spielen sehr viele, dynamische und miteinander verwobene Einflussfaktoren eine Rolle. Wenn ein Pilotprojekt auf lokaler Ebene gut funktioniert, kann das zwar Hinweise liefern, dass es auch in anderen Städten oder sogar auf Bundesebene Probleme lösen könnte. Doch die Rahmenbedingungen sind überall unterschiedlich, sodass es unwahrscheinlich ist, dass eine Lösung für alle passt. Viele Aspekte aus Brandts Forschung beziehen sich zudem auf zukünftige Szenarien, die wiederum von Entscheidungen, die wir heute treffen, beeinflusst werden. Welche Prognosen also letztlich eintreffen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.
Diese unterschiedlichen Realitäten und Ansprüche von Wissenschaft, Politik und Medien bedeuten für Brandt eine Herausforderung. „Ich versuche, transparent mit Unsicherheiten umzugehen und mich nicht zu Aussagen drängen zu lassen, die ich wissenschaftlich nicht vertreten kann“, sagt sie. „Das ist stets ein Balanceakt, aber ich bin auch dankbar für diese Möglichkeit, denn schließlich forsche ich nicht als Selbstzweck, sondern möchte, dass meine Ergebnisse positiven Einfluss in der Praxis entfalten können. Und genau dazu kann ich hoffentlich mit meiner Kommunikation beitragen.“
Text: Elena Bernard
Zur Person:
Prof. Dr. Martina Brandt ist seit 2014 Professorin für Sozialstruktur und Soziologie alternder Gesellschaften an der Fakultät Sozialwissenschaften. Seit 2020 engagiert sie sich als Prodekanin Forschung der Fakultät. Sie studierte Soziologie an der Universität zu Köln und promovierte 2008 an der Universität Zürich. Von 2009 bis 2014 arbeitete sie an der Universität Mannheim und am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München für die internationale Befragung „Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe“ (SHARE), an deren Koordination sie weiterhin beteiligt ist. An der TU Dortmund forscht sie zum Thema Altern in Europa und interessiert sich für Gesundheit und Wohlbefinden im Lebenslauf, Pflege, soziale Ungleichheit und Sozialpolitik.

Dies ist ein Beitrag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dortmund.
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