Schließung als Chance?!
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Der warme Luftstrom beim Eintreten im Winter, der überwältigende Geruch der Parfumabteilung direkt am Eingang: Die Zeiten, als Warenhausbesuche noch ein Erlebnis waren, liegen lang zurück. Und doch haben gerade Ältere die Warenhäuser in liebevoller Erinnerung. Sie standen für den Wiederaufbau in Deutschland, für das Wirtschaftswunder und ein schier unfassbares Konsumangebot. Dass der letzte verbleibende große Warenhauskonzern – wie zu Anfang des Jahres mit der Galeria Karstadt Kaufhof GmbH geschehen – wiederholt Insolvenz anmelden musste und künftig weitere Häuser schließen wird, trifft daher bei vielen Menschen einen empfindlichen Nerv.
„Warenhausschließungen sind emotional hoch aufgeladen. Alle kennen die vertrauten Gebäude, die über Jahrzehnte das Gesicht der Innenstadtzentren geprägt haben. Sie sind liebgewonnen, auch wenn dort nicht mehr viel eingekauft wird. Ihre Schließung wird vielerorts mit dem Niedergang der Innenstädte gleichgesetzt,“ sagt Nina Hangebruch, die an der Fakultät Raumplanung zur Transformation von Innenstadtzentren forscht.
Die 45-Jährige arbeitet als Wissenschaftlerin am Fachgebiet Stadt- und Regionalplanung und am ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH in Dortmund. Ihr Spezialgebiet ist die Umnutzung früherer Warenhäuser – das Thema hat sie aus ihrer Arbeit in der Praxis mitgebracht und als Basis für Forschungsprojekte genutzt.
Für Medien ist Hangebruch eine gefragte Expertin: Der Spiegel, das ZDF heute journal, die FAZ, Brand Eins, die Immobilienzeitung – die Liste der Medien, mit denen sie schon gesprochen hat, ist lang. Es gibt nur wenige Menschen mit dem gleichen Forschungsschwerpunkt, und doch ist ihr Thema allgemeinverständlich: „Ich kann im Fußballstadion darüber sprechen, mit meinen Nachbarinnen und Nachbarn und früher auch mit meiner Oma. Jeder kann gleich was dazu sagen.“ Hangebruchs Forschung zeigt, dass fast alle Standorte eine Nachnutzung finden. Es dauert allerdings im Schnitt fünf Jahre.
„Warenhausschließungen sind emotional hoch aufgeladen – und werden vielerorts mit dem Niedergang der Innenstädte gleichgesetzt.“ Dipl.-Ing. Nina Hangebruch
Recklinghausen: Auf dem gut gesicherten Dachgarten spielen die Schützlinge der Kindertagesstätte im Grünen, darunter befinden sich Büroräume, eine Apotheke sowie eine große Zahnklinik. Das ehemalige Karstadt-Gebäude aus dem Jahr 1930 wurde 2016 geschlossen und grundlegend umgebaut, ein Anbau aus den 1970ern abgerissen. Im vergangenen Jahr hat hier das MarktQuartier eröffnet, das verschiedene Nutzungsbausteine vereint. Barrierefreie Wohnungen sind neben einer Pflegeeinrichtung entstanden, Gastronomie liegt im Erdgeschoss. Einziger Handelsbetrieb ist ein Lebensmitteldiscounter. Ergänzt wurde das Gebäude durch einen Hotelneubau. „So viele Nutzungen in Kombination sind sehr robust gegenüber Veränderungen. Wenn ein Nutzungsbaustein nicht funktioniert, ist nicht gleich wieder das ganze Gebäude leer“, befindet Hangebruch.


„Das Beispiel Recklinghausen zeigt auch, dass Einzelhandel bei einer Nachnutzung oft nur noch von untergeordneter Bedeutung ist“, erläutert Hangebruch weiter. Schon Mitte der 1970er entstand weitab der klassischen Stadtzentren die Konkurrenz auf der grünen Wiese – für die immer zahlreicher werdenden Autofahrer*innen. Das setzte bereits damals Warenhäuser unter Druck. Spätestens seit Beginn der 2010er Jahre boomt der Onlinehandel, der heute bei Elektronik, Bekleidung und Büchern einen Marktanteil von etwa 40 Prozent hat. Die Folge: Waren Leerstände lange nur ein Problem von schlechten Lagen, sind sie heute längst auch in den Toplagen der Metropolen zu beobachten. Die Alternative nennt sich Mischnutzung: Bildung, Kultur- und Freizeitangebote, Wohnen, Gesundheitsdienstleistungen, Einkaufen in bunter Mischung statt reinem Konsum als Oberthema. „Dabei gibt es keine Konzepte von der Stange, für jedes Gebäude und für jede Stadt muss ein individuelles Konzept gefunden werden.“ Wie es clevere Geschäftsleute in Gelsenkirchen getan haben:
Gelsenkirchen-Buer: „Nach der Schließung des Hertie-Warenhauses 2009 setzten sich 16 Anliegerinnen und Anlieger zusammen, überlegten, planten, bauten um“, berichtet Hangebruch. „Sie gründeten eine gemeinsame GmbH, verhandelten den Kauf des leerstehenden Warenhauses aus der Insolvenz von Dawnay Day und entwickelten gemeinsam mit einem örtlichen Architekten das Linden-Karree – mit verschiedenen Läden, Gastronomie, Fitnessstudio, Stadtbücherei, Volkshochschule und einem Pflegeheim. Das gemeinsame Engagement für den Standort hat das gesamte Zentrum gestärkt und nicht zuletzt auch zur Wertsicherung der eigenen Immobilien beigetragen.“


Ihre Arbeit ist für Hangebruch kein „Beforschen“, vielmehr ein Austausch auf Augenhöhe. Sie arbeitet zusammen mit außeruniversitären Partner*innen wie Kommunen, Immobilieneigentümer*innen und Projektentwickler*innen. Das Sprechen vor öffentlichem Publikum steht ebenso auf ihrer Agenda wie Vorträge in wissenschaftlichen Communities. Und das, obwohl vor Praktiker*innen oder einem interessierten Laienpublikum zu sprechen, für ihr Ansehen als Forscherin weniger Prestige mit sich bringt. Selbstverständlich sind deshalb auch Artikel in Fachjournalen mit Double-Blind-Peer-Review fester Bestandteil ihrer wissenschaftlichen Arbeit. „Aber Beiträge und Interviews in den überregionalen Medien erzielen eine ungleich größere Reichweite in die Praxis und Gesellschaft“. Für Nina Hangebruch geht es deshalb vor allem darum, „das eine zu tun, ohne das andere zu lassen“ und dafür hinreichend Zeit im Arbeitsalltag zu finden. Denn „Wissenschaftskommunikation ist sehr zeitaufwändig“, so Hangebruch.
Interview? Gern, wenn es zeitlich passt.
Bei allem Engagement – Nina Hangebruch erhält mitunter mehrfach wöchentlich Medienanfragen, wenn das Thema Warenhausschließung gerade wieder ganz oben in der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Alle annehmen kann sie schon lange nicht mehr: „Ich entscheide danach, um welches Medium es geht, aber auch, wie es gerade in den Arbeitsalltag passt – und nicht zuletzt auch danach, wie respektvoll die Anfrage ist,“ erklärt die Transformations-Expertin. „Bei Medien, die nur auf verkürzte Schlagzeilen aus sind, lehne ich ab.“ Auch die vielen Anfragen lokaler Tagesmedien aus Städten in ganz Deutschland, in denen gerade ein Warenhaus schließt, kann sie nicht mehr bedienen. Hier macht sie nur in Dortmund und Umgebung eine Ausnahme, weil sie sich der Region verpflichtet fühlt.
Lünen: Bäume, Rasen, viel Licht: Einen im wahren Wortsinn tiefen Einschnitt gab es im ehemaligen Hertie-Warenhaus, das 2009 seine Türen schloss. Nina Hangebruch stellt das Projekt immer wieder gerne vor: „In der Umbauzeit bis 2016 wurde die Mitte des kubischen Gebäudes bis auf die Decke des Erdgeschosses zurückgebaut, so dass sich nun eine Schneise quer durchs Gebäude zieht. In den Obergeschossen der links und rechts aufragenden Gebäudeteile wurden Wohnungen eingerichtet, die dank der Schneise luftig und hell sind.“ Auf dem Dach des verbliebenen Erdgeschosses entstand eine 850 m2 große Grünfläche; darunter liegen Cafés und Restaurants, ein Sportgeschäft und eine Bankfiliale. Hangebruchs Fazit: „Durch die Rückbauten hat sich die Nutzfläche zwar deutlich verkleinert, aber nur so konnte die beidseitige Belichtung und Belüftung der Wohnungen in den Obergeschossen gelingen – und das ist hier entscheidend.“


Wird Nina Hangebruch gefragt nach dem idealen Stadtzentrum, so formt sie dieses Bild: Innenstädte sind nutzungsgemischte Zentren, bieten mehr als die traditionelle Konsumfunktion von Fußgängerzonen. Familien, Singles, Paare wohnen wieder in der Innenstadt, Bildungs- und Kulturangebote, Dienstleistung und Sport ziehen Menschen ins Zentrum – auch zum Ausgehen und Feiern. „Für viele dieser Nutzungen gibt es schon gute Beispiele in früheren Warenhäusern. Die sind technisch in aller Regel sehr gut umzubauen, auch wenn es auf den ersten Blick oft nicht so aussieht und sehr aufwändig ist.“
Berlin-Neukölln: Unter dem Motto „Ex-Kaufhaus wird Kiez-Kreativkosmos“ öffnet das „Kalle Neukölln“ 2024 seine Türen in der Hauptstadt. Drei Einschnitte in die alte Gebäudestruktur lassen Licht einfallen in die offene grüne Mitte. Im Innern entstehen Bürobereiche sowie Flächen für Kreativwirtschaft, Gastronomie, Einzelhandel und Clubs, die nachts für Leben sorgen sollen. Doch hier werden nicht nur das ehemalige Warenhaus und dessen Hochgarage neu genutzt, auch das Dach wird einbezogen und bietet künftig Platz für Gewächshäuser, Kräutergärten und Gastronomie mit Ausblick. „Eine tolle Idee“, meint Hangebruch, „denn Dächer üben eine ganz besondere Anziehungskraft auf Menschen aus. Sie werden noch immer viel zu selten in Nachnutzungskonzepte einbezogen.“
„Nicht gleich die Tagesschau“
Auf Social Media ist Nina Hangebruch mit Ausnahme von LinkedIn beruflich nicht aktiv – die Zeit reicht schlicht nicht aus. Zwar ist sie als Expertin oft zu lesen und in Radio- oder Podcast-Formaten zu hören, aber nur selten auf einem Bildschirm zu sehen. Bei TV-Aufnahmen zögert sie, hier fehlt es an Selbstbewusstsein und Erfahrung. „Ein gezieltes Medientraining könnte bestimmt helfen, denn ich bin ja in erster Linie Wissenschaftlerin und Planerin und im Umgang mit Medien nicht ausgebildet“, so Hangebruch.
Was man aus ihrer Sicht als Wissenschaftler*in einkalkulieren muss: Obwohl die Zusammenarbeit meist gut läuft, ist es ihr selbst mit großen Tages- und Wochenzeitungen bereits passiert, dass sie falsch zitiert wurde oder Absprachen nicht eingehalten wurden. „Sowas raubt Energie und Kraft, weil ich mir überlege: Brauche ich eine Gegendarstellung? Es bleibt im Netz ja sonst so stehen. Dann wäge ich ab, wie meine Ressourcen sind, und frage mich, wie sehr es mich noch in zwei Wochen, zwei Monaten oder zwei Jahren stört. Und dann taste ich mich zu einer Entscheidung vor.“
Kolleg*innen, die sich ebenfalls öffentlich zu ihren Forschungsthemen äußern möchten, rät Hangebruch: „Bei Texten und Zitaten immer auf Freigaben bestehen, das funktioniert in der Regel gut. Wenn nicht, sofort Grenzen aufzeigen, ‚Nein!‘ sagen und die Freigabe auch mal verweigern. Bei Radio- und Fernsehauftritten vorher die Fragen abklären.“ Nina Hangebruch lacht, wenn sie zurückblickt: „Und das erste TV-Interview vielleicht nicht gleich der Tagesschau geben.“
Text: Birte Vierjahn
Zur Person:
Dipl.-Ing. Nina Hangebruch ist Wissenschaftlerin am Fachgebiet Stadt- und Regionalplanung der TU Dortmund und in der Forschungsgruppe Raumbezogene Planung und Städtebau am Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH. Die Entwicklung und Erneuerung der Innenstadtzentren ist Schwerpunkt ihrer Forschung, die Transformation ehemaliger Warenhäuser ihr Spezialthema. Ihr Studium der Raumplanung absolvierte sie an der TU Dortmund sowie an der Université Aix-Marseille III in Frankreich. Seit 2009 ist sie eine (nicht nur) bei Medien begehrte Expertin für Fragen der Innenstadtentwicklung.

Dies ist ein Beitrag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dortmund.