„Eine lang vermisste europäische Öffentlichkeit entsteht“
- Forschung
- Top-Meldungen

Worauf sollten Journalist*innen jetzt achten, wenn sie über Flucht aus der Ukraine berichten?
Viele Menschen sind durch die kriegerischen Ereignisse in der Ukraine traumatisiert. Journalist*innen, die jetzt mit den Geflüchteten sprechen, müssen sich bewusst sein, dass sie allein durch ihre Fragen eine Re-Traumatisierung auslösen oder das Trauma noch verstärken können. Unser Handbuch gibt ganz konkrete Tipps für solche Interviewsituationen. Zugleich sind natürlich auch internationale Journalist*innen, die aus der Ukraine berichten, der Gefahr der Traumatisierung ausgesetzt. Für westliche Korrespondent*innen gibt es inzwischen in vielen Häusern geschulte professionelle Hilfsangebote. Für die ukrainischen Kolleg*innen werden wir ein solches Angebot schaffen müssen, wenn die Kampfhandlungen einmal enden.
Was beobachten Sie in deutschen Medien?
Die Berichterstattung bei uns in Deutschland ist gerade stark an den Individuen – den Menschen, die dem Krieg ausgesetzt sind, vor Ort und auf der Flucht – orientiert. Hier setzen die Medien aus meiner Sicht gerade sehr konstruktiv Medienkritik um, die nach der Flüchtlingskrise von 2015/16 aufkam. Damals wurden die geflüchteten Menschen häufig nur als große, anonyme Gruppe in der Berichterstattung sichtbar, die Berichte wurden von politischen Akteuren dominiert – das zeigt auch eine europaweit vergleichende Untersuchung, die wir 2019 durchgeführt haben. Das ist jetzt erkennbar anders. Wir wissen aber auch aus vorangegangenen Studien, dass die Berichterstattung über Flucht und Migration differenzierter ist, je näher zum eigenen Land sich das Geschehen in der „Nachrichtengeographie“ abspielt.
Bereits 2014 stand die Ukraine durch den bewaffneten Konflikt und Russlands Annexion der Krim international im Fokus. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse haben Sie zur damaligen Reaktion der europäischen Medien?
Wir haben mit dem Netzwerk unseres European Journalism Observatory damals vergleichend Medien in West- und Osteuropa untersucht. Zu unserer Überraschung zeigte die Studie, dass der bewaffnete Konflikt 2014 auch in manchen postsowjetischen Staaten wie Lettland und Tschechien – die selbst über Jahrzehnte von Moskau unterdrückt wurden – eher ein randständiges Thema war. Auch für südeuropäische Länder war der damalige Konflikt „weit weg“. Das ist jetzt fundamental anders. Durch die Bedrohungslage entsteht plötzlich in ungekanntem Ausmaß eine – auch von der Kommunikationswissenschaft lang vermisste – europäische Öffentlichkeit. Die Berichterstattung war damals zudem stark auf die Person von Putin fokussiert – dieses Muster sehen wir jetzt erneut.
Über das UNESCO-Handbuch zur Berichterstattung über Migration und Flucht
Forscherinnen des Erich-Brost-Instituts für internationalen Journalismus (EBI) der TU Dortmund haben in den vergangenen sechs Jahren für die UNESCO ein Handbuch zur Berichterstattung über Migration und Flucht erarbeitet. Damit wurde erstmals ein UNESCO-Handbuch, das weltweit die Standards für die Journalistenausbildung setzt, von einem deutschen Journalismus-Institut verfasst. Das rund 300 Seiten starke Werk ist 2021 erschienen und basiert auf umfangreichen wissenschaftlichen Analysen des TU-Teams und zahlreichen internationalen Konferenzen und Workshops zur Berichterstattung über Migration und Flucht – in den Zielländern von Migranten und Flüchtlingen ebenso wie in den Herkunfts- und Transitländern.
Ansprechpartnerin für Rückfragen: