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Vortragsreihe „Initialzündung“

Dr. Irina Scherbakowa berichtet über die Arbeit von Memorial

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Dr. Irina Scherbakowa hinter einem Rednerpult mit dem Logo der TU Dortmund. Der Hintergrund ist grau. © Roland Badge​/​TU Dortmund
Friedensnobelpreisträgerin Dr. Irina Scherbakowa bei der „Initialzündung“ Anfang Juni im Audimax.
Anfang Juni war Dr. Irina Scherbakowa im Rahmen der Vortragsreihe „Initialzündung“ zu Gast an der TU Dortmund. Die Mitgründerin von Memorial berichtete in ihrem Vortrag von der Jahrzehnte währenden Arbeit der Menschenrechtsorganisation, die 2022 in Russland verboten und im gleichen Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Die 1949 in Moskau geborene Historikerin, Publizistin und Germanistin Dr. Irina Scherbakowa hat Memorial 1989 mitgegründet und war bis zu deren Verbot als Mitarbeiterin für die Organisation tätig. Heute lebt sie im Exil in Deutschland. In ihrem Vortrag „Memorial – 35 Jahre Kampf um die Erinnerung“ berichtete sie von den Aktivitäten der russischen Menschenrechtsorganisation und erklärte, warum der Blick in die Vergangenheit so wichtig sei, um die heutigen Entwicklungen in Russland zu verstehen.

Mit dem Ende der Sowjetunion 1991 begann Memorial mit der historischen Aufarbeitung der stalinistischen Herrschaft: Laut Scherbakowa haben sie unter anderem über die Gulags, die sowjetischen Straf- und Arbeitslager, aufgeklärt und eine Datenbank mit Informationen zu rund vier Millionen Opfern der Repressionen aufgebaut, um ihnen Sichtbarkeit zu geben und sie „aus dem Lagerstaub herauszuholen“. Zudem wurden Mahnmale errichtet und Gedenktafeln angebracht.

„Zu dem Zeitpunkt dachte man in Russland, dass sich das Land auf dem Weg in die Demokratie befindet“, berichtete Scherbakowa. Doch in den 1990er-Jahren seien weder Täter des kommunistischen Regimes verurteilt, noch Lehren aus der Vergangenheit gezogen und neue Strukturen aufgebaut worden, sodass diese Entwicklung nicht lange andauerte. Eine erste rote Linie sei nach Auffassung von Memorial bereits mit dem ersten Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1999 überschritten worden, in dem grobe Menschenrechtsverletzungen begangen worden seien, und der Xenophobie in der russischen Gesellschaft geschürt habe.

In die Vergangenheit blicken, um den Krieg gegen die Ukraine zu verstehen

„Angesichts einer schwierigen wirtschaftlichen Lage hat sich die russische Gesellschaft schließlich gegen die Freiheit und für Stabilität in Form der Regierung Putin entschieden“, so die Historikerin. Nach und nach habe der Präsident demokratische Institutionen und bürgerliche Freiheiten abgeschafft und eine stark national-patriotische Doktrin vertreten. Der Zweite Weltkrieg sei zunehmend enthistorisiert worden, ein militaristischer Geist und „Siegesmythos“ hätten sich ausgebreitet und alte Stereotype wie der Westen als Feindbild seien wiederbelebt worden. „All dies spielt eine wichtige Rolle, um die heutige Situation und den Krieg gegen die Ukraine, bei dem wir beispielsweise eine Verdrehung des Nazi-Begriffs beobachten, zu verstehen“, sagte Scherbakowa. „Zu sehen, dass Mythen und historische Verklärungen genutzt werden, um Taten zu rechtfertigen und deren Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen, kann bei Historikerinnen und Historikern bisweilen zu Verzweiflung und Ohnmacht führen.“ Sie erläuterte, dass der Putinismus als Ideologie ausschließlich in die Vergangenheit blicke und anders als etwa der Kommunismus oder andere Diktaturen nicht zukunftsorientiert sei.

Ein Gesetz über „Ausländische Agenten“, das 2012 in Russland erlassen und mehrmals verschärft wurde, führte 2022 schließlich zur Liquidierung von Memorial in Russland. Dr. Irina Scherbakowa geht nicht von einem baldigen Ende der Putin-Regierung aus. Dennoch schloss sie ihren Vortrag mit einem hoffnungsvollen Appell: Die Zerstörung der alten Ordnung und alter Paradigmen sei insbesondere für ältere Generationen oft beängstigend. Doch sie könne auch produktiv sein und es liege vor allem an der jüngeren Generation, Kritik zu üben, eine europäische Ordnung zu definieren und auf diese Weise zusammenzufinden. „Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenwürde sind universell gültig – und sie zu verteidigen, ist heute wichtiger denn je“, so die Friedensnobelpreisträgerin.

Zahlreiche Fragen im Anschluss an den Vortrag zeugten vom großen Interesse des Publikums an den Erfahrungen Scherbakowas, der politischen Lage und der Arbeit von Memorial, welche mit Ablegern in anderen Ländern weiterhin aktiv ist.

Über die Vortragsreihe „Initialzündung“

Den Bogen nach Dortmund schlug TU-Rektor Prof. Manfred Bayer in seiner Begrüßung: Er erinnerte daran, dass der Nobelpreis aus dem Vermögen des schwedischen Erfinders des Sprengstoffs, Alfred Nobel, gestiftet worden sei, dem der Friede ebenso am Herzen lag wie der Erkenntnisgewinn in vier Wissenschaftsgebieten. Auf der Zeche Dorstfeld in Nachbarschaft zum Dortmunder Campus hatte Nobel einst Experimente durchgeführt, die die „Initialzündung“ ermöglicht hatten, welche heute namensgebend für die Vortragsreihe der Universität ist. Die Veranstaltungen werden durch die Wilo-Foundation gefördert. Zuvor waren zu Gast: Prof. Reinhard Genzel (Nobelpreis Physik 2020), Prof. Benjamin List (Nobelpreis Chemie 2021), Prof. Erwin Neher (Nobelpreis Medizin 1991) und Prof. Frances Arnold (Nobelpreis Chemie 2018).

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