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Leaves of Grass | Grashalme

Walt Whitmans Leaves of Grass

Die Erstausgabe von Walt Whitmans Lyrikband LEAVES OF GRASS (GRASHALME) erschien im Jahr 1855 in Brooklyn.

Bewusst legte Whitman das Erscheinen auf den Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten, den 4. Juli, denn so wie die demokratischen Vereinigten Staaten ein neues Kapitel in der Weltgeschichte aufschlugen, war sein Werk ein literarisches Experiment, das die Weltliteratur veränderte. Bislang war Lyrik durch spezielle ästhetische Formen gekennzeichnet – die Sprache eines Gedichts hob sich von der Sprache des Alltags noch stärker ab als die von Prosa oder Dramen. Whitmans Werk präsentiert sich dagegen in einer äußerst innovativen lyrischen Sprache – seit ihm gibt es reimlose Gedichte und Lyrik in freien Versen. Er versuchte also, den Gedanken der Demokratie und Freiheit nicht nur politisch, sondern auch künstlerisch umzusetzen.

Auch thematisch waren diese GRASHALME etwas Neues. Zwar wollte er seinen Beitrag als US-amerikanischer Dichter leisten, seine Botschaft der Demokratie allerdings nicht auf sein eigenes Land beschränkt wissen. Vielmehr sprach er die gesamte Welt, Menschen aller Berufe, jeglicher Herkunft, Hautfarbe und sexueller Orientierung an und forderte sie auf, dem Beispiel seines Landes zu folgen. Dabei war er sich der Vorreiterrolle der USA in Sachen Demokratie zwar bewusst, wollte aber sein Land keineswegs als dominante Kraft in diesem Prozess verstanden wissen. Stattdessen sah er seine Lyrik als kulturelle Diplomatie, der sich Menschen auf der ganzen Welt anschließen sollten.

Die Reaktion auf Whitmans lyrische Botschaft war ungeheuer. Er wurde nicht bloß in die Sprachen Europas und auch nicht allein in die dominanten Nationalsprachen übersetzt. Übersetzungen seiner Werke reichen vom Walisischen über das Jiddische bis hin zum Kasachischen, dem Kirgisischen, dem Kambodschanischen und Chinesischen. Whitman ist „Weltliteratur“ im wörtlichen Sinn. Freiheit verstand er nicht bloß politisch, sondern auch ästhetisch-künstlerisch. Afro-amerikanische Schriftsteller*innen des 20. Jahrhunderts fühlten sich von ihm ganz besonders angesprochen; ihr lyrischer Dialog mit dem US-amerikanischen Autor ist breit gestreut und komplex. Ähnlich bedeutend ist auch die Anziehungskraft Whitmans für die Schwulenbewegung und für LGBTQ-Autor*innen, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert national und international zunehmend Gehör verschafften.

Es gibt viele deutschsprachige Übersetzungen von Walt Whitman (1819-1892) und viele seiner Übersetzer waren außergewöhnliche Persönlichkeiten, darunter Ferdinand Freiligrath, Johannes Schlaf und Gustav Landauer. Die Übersetzung von Whitmans Gesamtwerk wurde 2009 vom Dortmunder Lyriker und Übersetzer Jürgen Brôcan unter dem Titel Grasblätter besorgt und war ein bedeutender Meilenstein in der übersetzerischen Whitman-Rezeption.  Alle diese Übersetzungen ins Deutsche basierten zum größten Teil auf seiner Ausgabe letzter Hand, der sogenannten deathbed edition von 1891/92.