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Leaves of Grass | Grashalme

Armin Mueller-Stahls Porträt von Walt Whitman

Wir sind Armin Mueller-Stahl sehr zu Dank verpflichtet für seine Bereitschaft, das in der Ausgabe von 1855 enthaltene Bild Whitmans für unsere Zeit und speziell für die vorlie­gende Ausgabe neu zu schaffen.

Der Schauspieler, der durch seine Erfolge in drei Welten – der DDR, der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten – globale Berühmtheit erlangte, ist wohl am besten geeignet, Whitman in einem transatlantischen Kontext zu verstehen. In seiner inzwischen langen und sehr erfolgreichen ‚zweiten‘ Karriere als Zeichner und Maler hat er sich insbesondere durch seine Porträts literarischer und künstlerischer Persön­lich­keiten einen Namen gemacht; diese stellen nicht nur Interpretationen der Biografien dar, sondern jeweils auch einen Zugang zu ihrem Werk.

In der ursprünglichen Ausgabe ist Whitmans Bild, basierend auf einer Daguerrotypie, das eines nicht mehr ganz jungen bärtigen Mannes mit Hut, offe­nem Hemd und Hose. Die Darstellung der Figur endet knapp oberhalb der Knie, es ist also eine Darstellung fast des gesamten Körpers. Eine Hand in die Hüfte gestemmt und die andere in der Hosentasche steht er lässig im Kontrapost. Der lockere Faltenwurf seines Hemdes unterstützt den Gesamteindruck von selbstbewusster Gelassenheit. Der markante Hut hebt die leichte Neigung des Kopfes noch hervor und betont den herausfordernd kecken Blick, mit dem der Mann dem Leser entgegentritt. Besonders die Augen haben eine prüfende und den Betrachtenden durchdringende Wirkung.

Für die vorliegende Ausgabe hat Armin Mueller-Stahl dieses Bild für unsere Zeit malerisch interpretiert und damit auch die Komplexität von Whitmans (künstlerischer) Persönlichkeit thematisiert. Während die Grundstruktur des Bildes der Erstausgabe beibehalten wurde, fehlt die überlegene Distanz der den Leser anblickenden Person. Dieser Whitman möchte nicht so sehr sein Publikum herausfordern, sondern eine Beziehung zu seinen Lesern herstellen. Er sucht ebenfalls den direkten Blickkontakt, wirkt dabei aber wohlwollender. Der Kopf ist nicht skeptisch geneigt, sondern grade auf den Betrachtenden gerichtet. Die Schattierungen des Gesichts, der im Vergleich mit dem Bild in der Erstausgabe weniger gepflegte Bart und ein schwer zu interpretierender Mund, an dem von leichtem Lächeln und Ironie bis hin zu Schmerz alles enthalten scheint, führen zu einem wesentlich psychologisierteren Ausdruck, dessen Darstellung die Schule des Expressionismus und den Freud’schen Paradigmenwechsel durchlaufen hat. Auf die detaillierte Feinheit der originalen, graphischen Darstellung folgt hier nun ein grob tupfender, bisweilen pastoser Farbauftrag gepaart mit kräftigen schwarzen Konturlinien. Diese expressionistische Malerei überträgt sich auf die Körpersprache des Dargestellten. Der Kopf sitzt gedrungener auf dem Hals, Hände und Arme sind verkrampfter.

Porträt: Armin Mueller-Stahl, „Walt Whitman“ (2020) LEAVES OF GRASS. GRASHALME. Aachen: Rimbaud, 2022

Whitmans megalomaner Optimismus, der im 20. Jahrhundert häufig kritisiert wurde, wird von Mueller-Stahl infrage gestellt. Das Bild verweist auf einen todesbewussten, nach seiner Identität suchenden, auch kulturskeptischen Autor, der von der Kritik – aber auch den Lesern – erst im Laufe des 20. Jahrhunderts erkannt wurde. Zwar neigt sich die Hutkrempe schwungvoll nach oben, was einen cowboyhaften Eindruck hervorruft, es ist jedoch schwierig, dieses Motiv nicht ironisierend zu lesen.

Die dominante Farbe – neben Schwarz – ist Mueller-Stahls charakteristisches Blau, das dem inhaltlich eigentlich zu erwartenden Grün der Grashalme zuwiderläuft und auch auf dieser Ebene die von Whitman selbst und auch vielen seiner kultischen Leser postulierte Einheitlichkeit des Werkes hinterfragt. Ob die Beziehung mit seinem Publikum gelingt? Die Figuren im rechten Hintergrund könnten die von Whitman so häufig adressierten Leser sein, aber sie scheinen seltsam entrückt. Die Zukunft dieser Beziehung ist, vorsichtig ausgedrückt, offen.