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Drei Fragen an Dr. Marcel Sebastian

„Die industrielle Massentierhaltung wird nicht mehr lange bestehen“

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Portrait eines jungen Mannes. © Martina Hengesbach​/​a-sign.de
Dr. Marcel Sebastian arbeitet seit September 2022 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der neu geschaffenen Professur für Umweltsoziologie mit dem Schwerpunkt Transformationsforschung.

Die einen werden auf dem Sofa verwöhnt und gehören zur Familie, die anderen leben in Massenzuchtbetrieben, bis sie geschlachtet werden. Welchen Stellenwert Tiere in der Gesellschaft einnehmen, ist extrem unterschiedlich. Woran das liegt und warum diese ambivalente Behandlung immer häufiger in Frage gestellt wird, beschreibt Dr. Marcel Sebastian von der Fakultät Sozialwissenschaften in seinem Buch „Streicheln oder Schlachten. Warum unser Verhältnis zu Tieren so kompliziert ist – und was das über uns aussagt“.

Dr. Sebastian, was macht unser Mensch-Tier-Verhältnis aus und wie hat es sich im Laufe der Zeit entwickelt?

Westliche Gesellschaften haben ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Tieren, insbesondere Haus- und Nutztieren. Die einen werden gestreichelt und sind für viele Menschen Familienmitglieder, die anderen sind Nahrungsmittel und Ressourcen – sprich: Waren. Dieser deutliche Kontrast hat einen komplexen sozialhistorischen Hintergrund. In Europa sind landwirtschaftlich genutzte Tiere seit dem Ende des Mittelalters immer unsichtbarer geworden. Heute reduzieren wir sie nahezu ausschließlich auf ihren ökonomischen Nutzen in der Schlachtindustrie. Im Gegensatz dazu steht die Beziehung zu Haustieren. Früher haben Hunde und Katzen auch aus ökonomischen Zwecken auf bäuerlichen Höfen gelebt – etwa als Hüte-, Jagd- oder Wachhund oder im Kampf gegen Mäuse und Ratten. Heute teilen Menschen ihren Alltag mit Hunden und Katzen, weil sie emotionale Bindungen zu individuellen und nicht ersetzbaren Tieren suchen. Zwischen „Haustier“ und „Nutztier“ im heutigen Sinne unterscheiden Menschen also erst seit dem Ende der Agrargesellschaft im Spätmittelalter. Seitdem hat sich die gegensätzliche Beziehung zunehmend verstärkt.

Wie geht die Gesellschaft mit diesem widersprüchlichen Verhältnis um?

Aktuell befinden wir uns in einem Umbruch. Das zeigt sich auch darin, dass Menschen diese unterschiedlichen Beziehungen überhaupt als Widerspruch wahrnehmen. Historisch haben wir die einen Tiere immer mehr wie „etwas“ und die anderen immer mehr wie „jemand“ betrachtet und behandelt. Diese Kluft und das deutliche moralische Ungleichgewicht stehen heute immer öfter zur Debatte. Gründe dafür sind beispielsweise ein wachsendes ökologisches und tierethisches Bewusstsein in der Bevölkerung. Aber auch wissenschaftliche Erkenntnisse tragen zu dem Wandel bei. Die klassische Sichtweise auf das „dumme Schwein“, das sich grundlegend vom klugen Hund unterscheidet, verliert an Rückhalt, da mittlerweile erwiesen ist, dass auch Schweine ausgesprochen intelligent sind. Damit entfällt eine wichtige Argumentationsgrundlage für die moralischen Unterscheidungen zwischen den Tier-Kategorien.

Was bedeutet das für die Zukunft der Mensch-Tier-Beziehung?

Ich gehe davon aus, dass das globale System der industriellen Massentierhaltung nicht mehr lange bestehen wird. Rund 15 Prozent der globalen Klimagase entstehen allein durch die landwirtschaftliche Tierhaltung. Für die Rinderhaltung und den Anbau von Futtermitteln werden zudem enorme Landflächen gerodet oder anderweitig umgewandelt werden. Damit wird auch das globale Artensterben beschleunigt. Ohne eine nachhaltige Ernährungs- und Agrarwende wird die Weltgemeinschaft die Pariser Klimaziele nicht einhalten können. Die Diskussion über Tierethik wird also durch eine ökologische Kritik der Massentierhaltung ergänzt.

Aus diesem Grund fordern immer mehr internationale Organisationen und Wissen­schaft­ler*innen, dass Menschen weniger Tierprodukte und mehr pflanzenbasierte Lebensmittel konsumieren sollten. Dieser drastische Wandel stellt Politik, Wirtschaft, Landwirt*innen und Konsument*innen vor große Herausforderungen. Die Frage ist: Gestalten wir diesen Prozess als Gesellschaft „by Design“ oder stößt die gegenwärtige Form der Tierhaltung „by Desaster“ an ihre ökologischen Grenzen?

Zur Person:

Dr. Marcel Sebastian arbeitet seit dem 1. September 2022 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der neu geschaffenen Professur für Umweltsoziologie mit dem Schwerpunkt Transformationsforschung an der TU Dortmund. Zuvor war er unter anderen an der Universität Hamburg und der Europa-Universität Flensburg beschäftigt. Seine Forschungsarbeiten über die Soziologie der Mensch-Tier-Beziehungen wurden in internationalen Fachzeitschriften publiziert und seine Dissertation für den Deutschen Studienpreis nominiert. Ende September 2022 veröffentlichte er sein Buch über die ambivalenten Beziehungen zwischen Menschen und Tieren.

Die Buchvorstellung von „Streicheln oder Schlachten. Warum unser Verhältnis zu Tieren so kompliziert ist – und was das über uns aussagt“ findet am Donnerstag, den 6. Juli im Dortmunder U statt.

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