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Wie Religionen Brücken in Europa bauen

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Links der Kölner Dom, davor die Hohenzollernbrücke © rudi1976​/​AdobeStock

Viele christliche und muslimische Gemeinden engagieren sich für Geflüchtete und Migrant*innen, insbesondere seit der europäischen Flüchtlingskrise 2015. Wie gut es religiösen Organisationen gelingt, den Zusammenhalt in Europa zu stärken, erforschen JProf. Matthias Kortmann und JProf. Alexander Unser von der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie.

Im Spätsommer 2015 erreichten immer mehr geflüchtete Menschen auf Booten die Küsten Italiens oder Griechenlands, überquerten zu Fuß die Grenzen zu Serbien oder Ungarn und trafen mit Sonderzügen in Deutschland ein. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte ihren berühmt gewordenen Satz: „Wir schaffen das.“ Etwa 1,3 Millionen Menschen beantragten in den Jahren 2015 und 2016 jeweils Asyl in der Europäischen Union, in den Folgejahren waren es je rund 700.000 Menschen.

Menschen in Seenot auf dem Mittelmeer © picture alliance​/​Daniel Kubirski
Gefährliche Überfahrt: Im Mittelmeer geraten immer wieder Menschen in Seenot, die in überfüllten Holzbooten versuchen, nach Italien oder Griechenland zu gelangen.

„Wir schaffen das“ – in dem Satz schwingt mit, dass Flüchtlingshilfe und Migrationsarbeit auf Akteur*innen der Zivilgesellschaft angewiesen sind. Eine wichtige Rolle spielen religiöse Organisationen: Verbände wie Caritas oder Diakonie, aber auch die einzelnen Gemeinden vor Ort. Solche Organisationen sammeln nicht nur Geld- oder Sachspenden, sondern nutzen Religion als kulturelle Ressource: „Religiöse Glaubensgrundsätze können Menschen motivieren, sich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren. Religion hat zudem das Potenzial, Brücken zu schlagen – etwa, weil Geflüchtete und Helfer*innen der gleichen Religion angehören, oder weil es verbindende Elemente zwischen den jeweiligen Religionen gibt“, sagt JProf. Alexander Unser von der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie. Er forscht als Juniorprofessor am Institut für Katholische Theologie zu interreligiösem Lernen und der politischen Relevanz von Religiosität.

Spannungen zwischen EU-Ländern

Religion wird aber auch instrumentalisiert, um Geflüchtete und Mi­grant*in­nen auszugrenzen: Organisationen wie ­Pegida gewannen im Herbst 2014 an Einfluss und rechtspopulistische Parteien feierten in ganz Europa Wahlerfolge, indem sie vor Islamisierung warnten. „Die Flüchtlingskrise hat zu Spannungen zwischen den EU-Mitgliedsländern geführt, die sich nicht darauf einigen konnten, Belastungen und Risiken gemeinschaftlich zu tragen“, sagt JProf. Matthias Kortmann von der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie. Er hat am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft die interdisziplinäre Juniorprofessur Religion und Politik inne. „Die einzelnen Länder der EU gehen sehr unterschiedlich mit spezifischen Religionen um, vor allem in Hinblick auf den Islam. Und auch hinsichtlich der öffentlichen Bedeutung von Religion gibt es große Unterschiede.“ Manche Länder wie etwa die Niederlande sind stark säkularisiert. Andere Länder sind sehr religiös, zum Beispiel Polen.

In einer Küche rührt eine Frau in einem großen Kochtopf © picture alliance​/​dpa​/​Frank Rumpenhorst
Im Caritas-Zentrum in Rüsselsheim arbeiten eine Deutsche und eine Afghanin gemeinsam in der Küche. Im deutschen Wohlfahrtsstaat spielen religiöse Träger eine wichtige Rolle.

Bund fördert international angelegtes Forschungsprojekt

Trägt Religion angesichts von Flucht und Migration zum Zusammenhalt in Europa bei? Diese Frage untersuchen Kortmann und Unser in einem gemeinsamen Forschungsprojekt. Das Projekt „ZER – Zusammenhalt in Europa durch Religion“ ist im Dezember 2020 gestartet und läuft noch bis November 2023. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert es mit rund 875.000 Euro.

Die Grundannahme des Projekts: Religion hat das Potenzial, Vertrauen zwischen Migrant*innen und der einheimischen Bevölkerung herzustellen – zum Beispiel, wenn gemeinsame religiöse Traditionen betont oder geteilte Werte hervorgehoben werden. Dieses wechselseitige Vertrauen erzeugt Sozialkapital. „Sozialkapital ist ein soziologischer Begriff, mit dem sich untersuchen lässt, wie stark der Zusammenhalt in Gruppen oder einer Gesellschaft ist“, erklärt Unser. Bezieht sich das Vertrauen nicht nur auf die Mitglieder einzelner Gruppen, sondern auf alle Mitglieder der Gesellschaft, erzeugt das brückenbildendes Sozialkapital. Brückenbildendes Sozialkapital kann verschiedene gesellschaftliche Gruppen miteinander verbinden, ohne dass Außenstehende ausgegrenzt werden, und so zu Zusammenhalt auf gesellschaftlicher oder sogar europäischer Ebene führen. „Wir untersuchen empirisch, wie gut es religiösen Organisationen gelingt, dieses brückenbildende Sozialkapital zu erzeugen“, sagt Unser.

Mit Praxispartnern in 27 Städten in Deutschland, Polen und den Niederlanden arbeiten die Forscher für das Projekt zusammen.

Dazu arbeiten die Wissenschaftler mit insgesamt 35 katholischen, protestan­tischen und muslimischen Organisationen zusammen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren. Die Kooperationspartner sind in drei Ländern angesiedelt: Polen, Deutschland und den Niederlanden. Weil im deutschen Wohlfahrtsstaat religiöse Träger eine wichtige Rolle spielen, liegt es nahe, dass sich hier religiöse Organisationen in der Migrationsarbeit einsetzen. In den Niederlanden gibt es hingegen nicht nur mehr Menschen, die keiner Kirche mehr angehören, sondern es wird auch mehr Wert auf eine stärkere Trennung von Kirche und Staat gelegt.

Für das katholische Polen war der Umgang mit Geflüchteten, vor allem mit muslimischen, schließlich eine vergleichsweise neue Erfahrung. „Uns interessiert, welchen Einfluss solche Faktoren auf die Arbeit mit Geflüchteten und Migrant*innen haben – und ob Religion grundsätzlich Zusammenhalt erzeugen kann oder ob das zum Beispiel vom jeweiligen Verhältnis zwischen Kirche und Staat abhängig ist“, so Kortmann.

Neue Aktualität durch Fluchtbewegung aus der Ukraine

Ausgangspunkt des Projekts sind vor allem die Flucht- und Migrationsdynamiken rund um das Jahr 2015. „Gleichzeitig findet unsere Forschung natürlich auch vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs statt. Das ist besonders mit Blick auf Polen relevant: Hier gab es vorher schon Fluchtbewegungen aus der Ukraine, aber nicht in dem Ausmaß, wie wir sie jetzt beobachten“, sagt Kortmann. Zudem unterscheidet sich die Religionszugehörigkeit: 2015 kamen die Geflüchteten überwiegend aus muslimischen Ländern, ukrainische Geflüchtete sind vor allem orthodox oder katholisch. Derzeit führen die Dortmunder Forscher noch Interviews in Polen. „So können wir die aktuellen Entwicklungen zumindest zum Teil abdecken und etwa untersuchen, wie die Gemeinden in Krisensituationen reagieren“, sagt Kortmann.

Zu den Partnern gehören sowohl muslimische Gemeinden...
- wie diese Moschee in Köln -
...als auch christliche Gemeinden in Deutschland
- wie diese Kirche in Stuttgart.

Die Wissenschaftler wollen nicht nur besser verstehen, wie Religion zum Zusammenhalt Europas beitragen kann, sondern auch praxisrelevante Ergebnisse generieren. Dazu zählen Best-Practice-Beispiele, von denen religiöse Gemeinden und Politiker*innen profitieren können. Der anwendungsorientierte Fokus zeigt sich in der BMBF-Förderung: Die Förderlinie „Zusammenhalt in Europa“ steht unter dem Dach des Rahmenprogramms „Gesellschaft verstehen – Zukunft gestalten“. Damit unterstützt das BMBF Forschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften, die zu einem besseren Verständnis und zur Bewältigung komplexer gesellschaftlicher Herausforderungen beiträgt.

Auf die Idee, sich mit einem Forschungsprojekt für eine BMBF-Förderung zu bewerben, kamen Kortmann und Unser bei einem gemeinsamen Mittagessen in der Mensa. „Wir waren beide relativ neu an der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie und haben festgestellt, dass wir ähnliche Interessen und Schwerpunkte in unserer Forschung haben“, erzählt Kortmann. Kortmann bringt Expertise in Politikwissenschaft sowie qualitativer Sozialforschung ein und hat bereits in den Niederlanden geforscht. Unser hat Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Polen – und außerdem tiefergehende Kenntnisse in Theologie und quantitativer Forschung. „Wir ergänzen uns auf den unterschiedlichen Ebenen sehr gut“, sagt Unser. „Das macht die interdisziplinäre Zusammenarbeit so bereichernd.“

Text: Hanna Metzen

Zu den Personen

JProf. Matthias Kortmann ist seit 2017 Juniorprofessor für Religion und Politik an der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und promovierte dort 2010 am Zentrum für Niederlande-Studien. Von 2011 bis 2012 war er Gastwissenschaftler an der Universität Amsterdam. Danach wechselte er an die Universität Potsdam und war anschließend zwischen 2013 und 2017 am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig. Seine Forschungsinteressen liegen in der vergleichenden Politikwissenschaft sowie in den Bereichen Integrations- und Migrationspolitik, Religion und Politik, Wohlfahrtspolitik und dem Parteienwettbewerb.

Ein Portrait von Matthias Kortmann © Felix Schmale​/​TU Dortmund

JProf. Alexander Unser ist seit 2019 Juniorprofessor für Katholische Theologie mit dem Schwerpunkt Religionsdidaktik an der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie. Er studierte Katholische Theologie an der Universität Freiburg und Päda­gogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. 2018 schloss er seine Promotion an der Universität Würzburg ab, von 2017 bis 2019 arbeitete er zudem als nebenberuflicher Religionslehrer an der Mönchbergschule in Würzburg. Zwischen 2019 und 2021 wurde er in den sechsten Jahrgang der Global Young Faculty der Universitätsallianz Ruhr und des Mercator Research Center Ruhr berufen. Er forscht schwerpunktmäßig zu sozialer Ungleichheit und Heterogenität im Religionsunterricht, interreligiösem Lernen und der politischen Relevanz von Religiosität.

Ein Portraitfoto von Prof. Alexander Unser. © Aliona Kardash​/​TU Dortmund

Dies ist ein Bei­trag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dort­mund.

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