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App als Therapie

Mit Zauberern und Drachen gegen ADHS

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Eine vollgekrikkelte Tafel hinter der man unscharf Kinder und eine Lehrerin im Klassenzimmer sieht © annanahabed​/​stock.adobe.com

Prof. Jörg-Tobias Kuhn und Isabelle Alice Paßreiter von der Fakultät Rehabilitationswissenschaften entwickeln in einem Verbundprojekt eine App, die spielerisch dabei helfen soll, die Symptomatik einer ADHS zu verbessern.

Zappelphilipp oder Hans Guck-in-die-Luft – die Geschichten aus dem „Struwwelpeter“ werden häufig genutzt, um Symptome einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) zu beschreiben. Prof. Jörg-Tobias Kuhn erklärt warum: „Eine ADHS wirkt sich meist auf zwei unterschiedliche Arten aus. Entweder sind die Kinder hyperaktiv, sie können also ihre Impulse schlecht kontrollieren und haben eine sehr hohe Aktivität. Oder sie sind unaufmerksam und ihnen fällt es enorm schwer, sich zu konzentrieren. Es gibt aber auch Mischformen.“

An der neurokognitiven Störung, die auch die geistigen Möglichkeiten der Betroffenen einschränken kann, leiden laut Schätzungen des Bundesgesundheitsministeriums zwei bis sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen. Seit 2019 arbeitet Kuhn zusammen mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Isabelle Alice Paßreiter im Verbundprojekt MATS, in dem es um die Entwicklung einer mobilen Trainingssoftware zum Einsatz in der ADHS-Therapie geht.

App für Kinder im Grundschulalter

Kuhn und Paßreiter sind für die Konzeption der App aus rehabilitationswissenschaftlicher und psychologischer Sicht zuständig. Im Projekt kooperieren sie mit der MeisterCody GmbH, die die Lernsoftware entwickelt, und dem Team um Prof. Maic Masuch von der Universität Duisburg-Essen, das für das Gamedesign und die Usability zuständig ist. MATS – die Abkürzung steht für „mobile attention training software“ – hat die Ausschreibung „Create Media NRW“ gewonnen und wird vom Land sowie vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (ERFE) mit insgesamt fast einer Million Euro gefördert.

Ein Schulkind sitzt resigniert an seinem Pult im Klassenzimmer © Racle Fotodesign​/​stock.adobe.com
Kinder mit einer unbehandelten AHS haben oft Probleme in der Schule oder beim sozialen Miteinander mi Freunden und Familie

Die App richtet sich vor allem an Kinder im Grundschulalter, die eine diagnostizierte ADHS haben. Das Forschungsteam hat sich bewusst für diese Altersgruppe entschieden. „ADHS wird häufig zu Beginn der Grundschulzeit festgestellt. Je früher dann eine Intervention erfolgt, desto günstiger sind die Erfolgsaussichten“, berichtet Kuhn. Bei leichten und mittelschweren Formen von ADHS werden zunächst vor allem psychoedukative und therapeutische Maßnahmen eingesetzt. Dabei wird den Kindern und ihren Eltern erklärt, was ADHS ist und in der Therapie werden gemeinsam Schritte entwickelt, wie man die Symptomatik in den Griff bekommen kann. Bleibt der Erfolg aus oder liegt ein schwerwiegender Fall von ADHS vor, wird zusätzlich mit einer pharmakologischen Therapie, zum Beispiel mit Medikamenten wie Ritalin, behandelt. Unbehandelt kann eine ADHS nicht nur zu schlechteren Noten in der Schule, sondern auch zu Schwierigkeiten im sozialen und familiären Bereich führen. So haben betroffene Kinder oftmals Probleme, Freunde zu finden, oder es kommt zu häufigen Stresssituationen in der Familie.

Gnome finden, Zaubertränke mixen

„Auch unsere App ist eine psychoedukative Maßnahme, bei der die Kinder durch Spiele erlernen, wie sie in Alltagssituationen mit ihrer Störung umgehen können“, sagt Paßreiter. Die App umfasst dabei zwei Bausteine: Zum einen findet kognitives Training statt, zum anderen werden Strategien aus der Verhaltenstherapie umgesetzt. „Wir wissen aus Studien, dass Kinder mit ADHS bezüglich kognitiver Kontrolle und Verhaltenssteuerung Defizite haben. Ihnen fällt es zum Beispiel schwer, Handlungsschritte zu planen. Außerdem agieren sie oft impulsiv“, erklärt Kuhn. MATS soll die Kinder dabei unterstützen, Aufgaben anzugehen und ihre Ziele zu erreichen.

Die eigens für die App entwickelten Spiele helfen dabei: Bei „Gnome zupfen“ erscheint in regelmäßigen Abständen in einem von 20 auf dem Bildschirm angeordneten Löchern ein Tier, zum Beispiel eine Schnecke. Ab und zu tauchen aber auch Gnome auf. Diese haben genau die gleichen Farben wie die Schnecke. Die Kinder sollen immer nur dann am Tablet „zupfen“, wenn sich ein Gnom zeigt. Dieses Spiel hilft dabei, Aufmerksamkeit zu konzentrieren und Handlungsimpulse zu unterdrücken, die spontan aufkommen, aber unreflektiert sind.

Ein Screenshot der MATS-App, auf dem steht: Spielerisch AD(H)S therapieren © Screenshot MATS-App​/​MeisterCody GmbH
Kindern mit ADHS fällt es oft schwer, Handlungs- schritte zu planen.
Screenshot der MATS-App, die ein Mini-Spiel zeigt © Screenshot MATS-App​/​MeisterCody GmbH
Die MATS-App soll sie dabei unterstützen, ihre Aufgaben anzugehen und ihre Ziele zu erreichen. Beim Spiel „Gnome zupfen“ üben Kinder Konzentration.
Screenshot der MATS-App, die ein Mini-Spiel zeigt © Screenshot MATS-App​/​MeisterCody GmbH
Bei der Zubereitung eines „Zaubertranks“ lernen sie, Informationen gleichzeitig zu speichern und zu modifizieren.

Die Fähigkeit „Updating“ wird im Spiel „Zaubertrank“ trainiert: Die Kinder sollen sich hierbei merken, welche Zutaten ein Zaubermeister in welcher Menge und Reihenfolge in den Trank mischt. Ab und zu nimmt er jedoch auch wieder Zutaten heraus. Die Kinder müssen die Reihenfolge also ständig „updaten“. Sie lernen dabei, Informationen gleichzeitig zu speichern und zu modifizieren. Beim Spiel „Drachenreiten“ fliegen die Kinder auf einem Drachen und sollen bestimmte Diamanten einsammeln. Zeitgleich tauchen jedoch auch Hindernisse auf. Die Kinder müssen also lernen, ihre Aufmerksamkeit auf verschiedene Aspekte zu verteilen. Bei anderen Spielen geht es beispielsweise darum, einen Weg im Vorhinein zu planen oder Handlungen immer wieder anzupassen.

Strategien aus der Verhaltenstherapie

Neben dem kognitiven Training setzt MATS auch auf Strategietraining. Das Team hat sich dazu Situationen angeschaut, in denen es im Alltag bei Kindern mit ADHS besonders oft schwierig wird. Das können Hausaufgaben sein, aber auch das morgendliche Fertigmachen für die Schule oder das Packen der Schultasche. „Bezogen auf solche Schlüsselsituationen haben wir eine Reihe von Interventionsmaßnahmen entwickelt“, sagt Paßreiter. Sechs verschiedene Strategien aus der Verhaltenstherapie werden in der App umgesetzt.

Die App ist der Therapeut, der mit nach Hause kommt und da unterstützend zur Seite steht.

Die Familien können auswählen, in welcher Situation sie am meisten belastet sind, zum Beispiel bei der Morgenroutine oder am Esstisch, und die Strategien dann in der Situation in der App üben. Alle Strategien wurden evidenzbasiert ausgesucht, jede von ihnen wurde also schon bei Kindern mit ADHS erprobt und hat nachweislich zu Verbesserungen des Verhaltens geführt. Beim „mentalen Kontrastieren“ lernt man, sich vorzustellen, wie man sich fühlen wird, wenn man zum Beispiel alle Aufgaben erledigt hat. Das erhöht die Motivation. Bei „Wenn-Dann-Plänen“ geht es darum, einen Plan dafür zu erarbeiten, welches Verhalten man zeigt, wenn eine bestimmte Situation eintrifft.

Screenshot der MATS-App, die eine meditierende Figur zeigt © Screenshot MATS-App​/​MeisterCody GmbH

Routinen etablieren und negative Emotionen regulieren

Außerdem erlernen die Kinder und Eltern, Routinen zu etablieren und eine antizipatorische Emotionsregulation durchzuführen, also negative Emotionen zu regulieren, bevor sie sich entfalten. Beim „Punkteplan“ geht es darum, für regelkonformes Verhalten Punkte zu vergeben, die gegen ein schönes Erlebnis eingetauscht werden können. Werden „Signalkarten“ eingesetzt, erhalten die Kinder bei einer Aufgabe gesonderte Hinweise, welche Schritte auf dem Weg zur Lösung eingehalten werden müssen: „Was ist mein Ziel?“ oder „Wie nah bin ich schon an der Zielerreichung?“. Diese Schritte laufen bei Menschen ohne ADHS intuitiv ab, Personen mit ADHS müssen sie erlernen.

Um die Motivation der Kinder an MATS zu steigern, wurde der App ein Videospielcharakter verliehen. Die zwei Protagonisten Mats, ein Junge, der am hyperaktiven Typus der ADHS leidet, und Matti, ein Mädchen, das den unaufmerksamen Typus wiederspiegelt, führen als Comicfiguren durch die App und erzählen von ihren Problemen im Alltag. Es sind auch viele Cartoons mit interaktiven Elementen eingebaut. „Die Kinder heutzutage sind – was Videospiele angeht – sehr viel gewohnt. Deswegen ist es bedeutend, dass auch das Gamedesign motivierend und ansprechend ist, ohne zu stark abzulenken“, sagt Kuhn.

„Wir brauchen die Eltern“

Screenshot der MATS-App, die eine lesende Figur zeigt © Screenshot MATS-App​/​MeisterCody GmbH

Ein wichtiger Bestandteil von MATS ist das Einbeziehen der Eltern. Auch diese sollen mit der App arbeiten und die Strategien erlernen. „Man kann nicht erwarten, dass Kinder Strategien erlernen und dann selbstständig ausprobieren, was sie in der App gesehen haben. Sie brauchen im Alltag jemanden, der ihnen hilft, diese Strategien umzusetzen“, erklärt Paßreiter. „Wir brauchen die Eltern als zentrale Brücke. Sie können am besten eine Verbindung von der App in das Leben der Kinder und in das System Familie schlagen“, ergänzt Kuhn. Zudem zeigen Studien, dass Eltern einen entscheidenden Anteil am Erfolg der Therapie haben.

Mutter und Kind geben sich ein High-Five am Küchentisch, während das Kind Hausaufgaben macht © Lumos sp​/​stock.adobe.com
Eltern tragen entscheidend zum Erfolg einer ADHS-Therapie bei. Sie können ihre Kinder dabei unterstützen, die mit der App erlernten Strategien im Alltag umzusetzen.

MATS soll in Zukunft therapiebegleitend eingesetzt werden. „Therapien finden häufig nur einmal die Woche oder sogar nur alle zwei Wochen statt, dann ist es natürlich schwierig, die Strategien in den Alltag einzubinden. Die App ist sozusagen der Therapeut, der mit nach Hause kommt und da unterstützend zur Seite steht“, meint Paßreiter. Aktuell werden die Daten einer Usability-Studie mit zehn Familien aus ganz Deutschland ausgewertet. Die Familien haben ein Tablet mit dem Prototyp der App erhalten und in einem Audio-Tagebuch festgehalten, was ihnen gefallen hat und inwiefern sich die Symptomatik der ADHS verändert hat. Auch in der App selbst werden die Eltern befragt, wie nützlich sie eine spezielle Aufgabe fanden. Abschließend soll mit den Familien noch ein Interview durchgeführt werden.

„Unser Wunsch ist es, MATS zusätzlich noch in einem Randomized Controlled Trial einzusetzen, also in einer größeren Stichprobe mit Kontrollgruppe so wie man das von Medizinprodukten kennt. Dadurch könnten wir erste Wirksamkeitshinweise noch einmal validieren“, sagt Kuhn. Dafür seien die Forscher*innen in Gesprächen mit möglichen klinischen Kooperationspartner*innen. Danach könnte MATS als offizielle therapiebegleitende Maßnahme eingesetzt werden, ergänzt Paßreiter: „Die Familien sind schon jetzt total motiviert, dabei mitzuhelfen, das Ganze marktreif zu machen.“

Text: Sandra Teige

Zur Person:

Prof. Jörg-Tobias Kuhn © Felix Schmale​/​TU Dortmund

Prof. Jörg-Tobias Kuhn lehrt und forscht seit 2017 als Professor für Methoden der empirischen Bildungsforschung an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund. Er studierte Psychologie an der WWU Münster und an der RWTH Aachen. Nach seiner Promotion an der WWU Münster war er als Psychometriker am Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation & Entwicklung des österreichischen Schulwesens in Salzburg und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie – Bereiche Statistik und Methoden sowie Diagnostik und Evaluation im schulischen Kontext – der WWU Münster tätig. Im Wintersemester 2015/16 vertrat er die Professur für Persönlichkeitspsychologie, Diagnostik und Beratung an der FernUniversität Hagen. Seine Forschungsschwerpunkte an der TU Dortmund umfassen insbesondere die Diagnostik und Intervention bei Lernstörungen sowie die Entwicklung und Evaluation von Verfahren der Lernverlaufsdiagnostik.

Isabelle Alice Paßreiter © Martina Hengesbach​/​TU Dortmund

Isabelle Alice Paßreiter arbeitet seit 2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Methoden der empirischen Bildungsforschung an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften und ist am MATS-Projekt beteiligt. Sie studierte Psychologie an der Universität Mannheim und der University of Jyväskylä in Finnland. Danach war sie als Schulpsychologin an der Beratungsstelle für Familie und Schulpsychologie der Stadt Lüdenscheid tätig. Seit 2022 arbeitet sie als Psychologin im Sozialpädiatrischen Zentrum des Lebenszentrums Königsborn in Unna. Ihre Forschungsschwerpunkte an der TU Dortmund umfassen die computergestützte Förderung bei Lernstörungen und ADHS-Interventionen.

Dies ist ein Bei­trag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dort­mund.

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