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Gerechte Bildung

Geschlechterbilder in der Schule

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Ein Junge und ein Mädchen stehen vor einem großen Bücherregal und halten jeweils einen Stapel Bücher in den Händen. © wip-studio​/​stock.adobe.com

Prof. Ricarda Steinmayr vom Institut für Psychologie untersucht das Leistungsverhalten von Jungen und Mädchen in der Schule. Sie erkennt dabei Ungerechtigkeiten und macht Vorschläge, wie diese abgefedert werden können.

Mädchen schneiden in der Schule erfolgreicher ab als Jungen. Sie haben bessere Noten, bekommen eher eine Empfehlung für das Gymnasium und machen häufiger Abitur. Jungen werden im Durchschnitt später eingeschult, besuchen seltener das Gymnasium, dafür öfter eine Förderschule, machen niedrigere Bildungsabschlüsse und verlassen häufiger ohne Abschluss die Schule.

Schwächelt das „starke Geschlecht“ in unserem Bildungssystem? Diese Frage ist Teil der Forschung von Prof. Ricarda Steinmayr und ihrem Team an der Fakultät Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bildungsforschung. Die Professorin für Pädagogische und Differentielle Psychologie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Determinanten schulischen Leistungsverhaltens, darunter dem Geschlecht.

Was ist typisch Junge, typisch Mädchen? Welche Unterschiede findet man? Und wie wirken diese sich auf den Lernerfolg und die Bildungskarrieren aus? Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten. Zum einen zeigt sich unter anderem an den Ergebnissen internationaler Schul-Leistungsuntersuchungen wie IGLU und PISA, dass hier die Unterschiede zwischen den Geschlechtern unter anderem vom Alter abhängen. Mit zunehmendem Alter werden die Unterschiede in der Regel größer, das lässt sich vor allem bei der Lesekompetenz beobachten. Leichte Vorteile zugunsten der Mädchen ergeben sich bereits in der Grundschule, während die Jungen in Mathematik etwas vorne liegen. In den naturwissenschaftlichen Fächern sind die Unterschiede meist nicht signifikant.

„Mädchen scheinen bei der Notenvergabe bevorteilt zu sein“

Mädchen erhalten bei vergleichbaren Kompetenzen oft bessere Noten und auch eher eine Gymnasialempfehlung. Eine Auswertung der IGLU-Ergebnisse zeigt, dass Jungen in fast allen Bundesländern im Durchschnitt höhere Werte in den Kompetenztests haben als Mädchen, wenn sie eine Gymnasialempfehlung erhalten. Das heißt, sie müssen für diese Einstufung mehr leisten. „Mädchen scheinen bei der Notenvergabe etwas bevorteilt zu sein“, sagt Ricarda Steinmayr. Das hat langfristige Konsequenzen für den weiteren Weg der Schüler*innen – für den angestrebten Schulabschluss und die Entscheidung zwischen einer akademischen und einer nicht-akademischen Laufbahn. „Das ist nicht nur ungerecht, man übersieht damit auch Potenziale, die wir in unserer Gesellschaft dringend brauchen“, sagt Steinmayr.

Auf der anderen Seite sind es die Mädchen, die ihre eigenen Fähigkeiten schlechter einschätzen, als sie sind. Als Folge unter anderem gesellschaftlicher Stereotype bewerten sich Mädchen bei gleicher Kompetenz schlechter als Jungen. Und das bleibt in der Regel auch unwidersprochen. Jungen werden von Lehrkräften und Eltern bei gleichen Fähigkeiten häufiger als begabter angesehen. „Studien zeigen, dass schlechte mathematische Leistungen bei Jungen eher als Folge von Faulheit, bei Mädchen als Folge mangelnder Begabung betrachtet werden“, so Ricarda Steinmayr. Zeigen Mädchen hingegen gute Leistungen, werden diese häufig dadurch erklärt, dass Mädchen fleißiger sind als Jungen.

Mädchen im MINT-Bereich unterrepräsentiert

Diese Geschlechtsunterschiede in der Selbstbewertung tragen zu einer Unterrepräsentation von Mädchen im MINT-Bereich bei, also in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. „Viel weniger Mädchen streben einen Beruf in dem Bereich an. Das macht es zu einem gesellschaftlich relevanten Thema“, so die Psychologin. Auch deshalb, weil die Mädchen mit geringerer Wahrscheinlichkeit Berufsentscheidungen treffen, die in der Regel mit guten Karrieren und einer besseren Bezahlung einhergehen.

Geschlechtsunterschiede in der Selbstbewertung können dazu beitragen, dass Mädchen Berufe wählen, die oftmals mit weniger Karrierechancen und einer schlechteren Bezahlung einhergehen.

Dabei seien die Leistungs- und Interessensunterschiede eigentlich eher gering: Laut einer Untersuchung in der 4. Klasse schneiden Jungen in Mathematik kaum besser ab als Mädchen. Eine Studie von Ricarda Steinmayr mit 16-jährigen Schüler*innen zeigt, dass Mädchen und Jungen fast vergleichbare Interessen an Mathematik und Chemie haben, während es große Interessensunterschiede im Bereich Physik gab. Dennoch schätzten die Mädchen ihre Fähigkeiten in Mathematik auch in diesem Alter geringer ein, und das, obwohl objektive Tests bestätigen, dass die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen in den MINT-Fächern allgemein eher klein sind; viel geringer jedenfalls, als die Leistungsunterschiede innerhalb der Gruppen selbst.

Aber wer sind nun am Ende die Verlierer*innen unseres Bildungssystems? Die Jungen, die das System Schule weniger erfolgreich durchlaufen als ihre Mitstreiterinnen? Oder die angepassten Mädchen mit dem Notenvorsprung, die sich aber von MINT-Fächern abwenden und am Ende schlechtere und geringer bezahlte Berufskarrieren erleben? Gerechtigkeit würde bedeuten, dass beide Geschlechter durchgehend und von Anfang an die gleichen Chancen haben. Das heißt, Tests müssten fair, Schulwahlempfehlungen und Noten objektiv sein. Und Mädchen müssten so sozialisiert werden, dass sie auf ihre mathematisch-naturwissenschaftlichen Fähigkeiten vertrauen.

Warum Jungen schlechter beurteilt werden

Das Team um Prof. Steinmayr hat noch tiefer geschaut und ist der Frage nachgegangen, warum Jungen in der Schule schlechter beurteilt werden. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass neben der Leistung auch Einstellungen und Verhalten der Schüler*innen mit einfließen in die Notengebung. Merkmale wie Arroganz und Störverhalten wirken sich negativ aus, wohingegen typisch weibliches Verhalten wie Gewissenhaftigkeit oder Selbstdisziplin sich positiv niederschlagen. Ricarda Steinmayr: „Jungen zeigen häufiger Verhaltensweisen beziehungsweise Eigenschaften, die eine schlechtere Passung mit den Anforderungen des Schulalltags aufweisen.“

Eine junge Schülerin sitzt an einem Schreibtisch und schreibt in ein Heft. © White bear studio​/​stock.adobe.com
Studien zeigen, dass auch typisches Verhalten in die Notengebung einfließt: Gewissenhaftigkeit oder Selbstdisziplin schlagen sich positiv nieder...
Ein junger Schüler sitzt an seinem Tisch im Klassenzimmer und albert mit seinem Sitznachbarn herum. © contrastwerkstatt​/​stock.adobe.com
...wohingegen sich Störverhalten negativ auswirkt.

Stellt sich die Frage, warum die Schüler ihr Verhalten nicht anpassen, um besser abzuschneiden. Die Antwort ist fast banal: Es geht um Beliebtheit. Jungen, die eher faul und lässig sind, kommen besser an. Sogar Störverhalten steigert das Ansehen der Jungen. Diejenigen, die sich anstrengen, gelten als Streber und werden von ihren Mitschülern weniger gemocht. Für Mädchen konnten solche Effekte aber nicht gefunden werden: „Ähnliche Verhaltensweisen scheinen also für Mädchen und Jungen in der Schule anders zu funktionieren.“ Darüber hinaus bringen offenbar bestimmte Verhaltensweise in der Schule Probleme mit sich, was aber nicht unbedingt für das Berufsleben gelten muss.

In einer weiteren Studie betrachtete die Forscherin anhand einer Stichprobe der gymnasialen Oberstufe und einer Erwachsenenstichprobe mit ehemaligen Gymnasiast*innen, welche Eigenschaften auf Schulnoten und Berufserfolg einwirken. Dabei zeigte sich, dass Gewissenhaftigkeit, Intelligenz und Leistungsstreben Merkmale sind, die mit beidem zusammenhängen. Hingegen stand die bei Jungen stärker ausgeprägte Dominanz nicht in Verbindung mit schulischem Erfolg, zeigte sich aber als der stärkste Faktor für berufliches Fortkommen. Die gleichen Eigenschaften scheinen in den Umwelten Schule und Beruf unterschiedlich zu funktionieren.

Dieser sogenannte Person-Environment-Fit-Ansatz trägt dazu bei, die widersprüchlichen Ergebnisse bezüglich der Geschlechtsunterschiede in Leistungskriterien vor und nach der Schule zu erklären. Denn, und das ist unbestritten, auch wenn die Mädchen in Bezug auf viele akademische Leistungskriterien die Nase vorne haben, im Berufsleben wendet sich das Blatt zugunsten der Männer, und hier haben die Frauen an vielen Stellen das Nachsehen, auch bei gleichen Qualifikationen und Kompetenzen. Frauen übernehmen eher die Familienarbeit, neigen zu Teilzeitstellen und haben auch während der Corona-Pandemie beruflich häufiger zurückgesteckt, um die Kinderbetreuung zu gewährleisten und Homeschooling zu betreuen. Darüber hinaus wählen sie eher Berufslaufbahnen in den schlechter bezahlten sozialen Bereichen mit schlechteren Aufstiegschancen.

Mit objektiven Tests Diskriminierung abfedern

Um Jungen bei der Notengebung und Schulempfehlung nicht länger zu diskriminieren, seien ergänzend zu den Noten objektive Leistungstests nötig, meinen die Expert*innen. Auch die Selektionsstrategien, etwa die Kriterien für den Übergang an die weiterführenden Schulen, müssten sich ändern und dürften nicht nur von der Empfehlung der Schule abhängen. Hier könne man beispielsweise die Test-Ergebnisse der Lernstandserhebungen VERA einbeziehen. Die Vergleichsarbeiten VERA untersuchen in den Klassen 4 und 8 den Kompetenzstand von Schüler*innen hinsichtlich länderübergreifender Bildungsstandards.

Wichtig ist Ricarda Steinmayr bei den ergänzenden Tests, dass positive Ergebnisse unbedingt einbezogen werden, negative Abweichungen aber unberücksichtigt bleiben. „Es kann viele Gründe für Ausreißer nach unten geben – das Kind hatte Streit, der Hund ist gerade gestorben oder es hat einfach einen schlechten Tag.“ Erwartungswidrig gute Leistungen in objektiven Leistungstests sind aber ein starker Indikator dafür, dass das Kind bislang vielleicht zu Unrecht schlechter beurteilt wurde als es seinen Kompetenzen entspricht. Nur durch zusätzliche objektive Beurteilungen könne man die Gefahr verringern, dass Potenzial übersehen werde.

Gleichzeitig muss den Mädchen vermittelt werden, ihren Fähigkeiten zu vertrauen. Sie müssen erkennen, dass Mathematik und Naturwissenschaften hilfreich sein können für ihre Zukunft. Das könnte etwa durch Nützlichkeitsinterventionen geschehen. Am Institut wurde ein mögliches Vorgehen bereits in zwei Masterarbeiten vorgestellt. Dazu wurden Jugendlichen Aussagen mitgeteilt, wie „Hätte ich gewusst, wie wichtig Mathematik ist, dann hätte ich mich mehr angestrengt“. Nach solchen Kurzinterventionen sahen die Betroffenen bei einer anschließenden Befragung das Fach tatsächlich als nützlicher an, und auch ihre Leistungen verbesserten sich. Ob sich dadurch auch positivere Fähigkeitsselbstbeurteilungen erzielen und entsprechende Geschlechtsunterschiede reduziert werden könnten, müsse in Längsschnittuntersuchungen weiter überprüft  werden, so Steinmayr.

Mit relativ einfachen Mitteln könnten also tradierte Geschlechternachteile zumindest abgefedert werden – als Gewinn für beide Seiten und die Gesellschaft insgesamt.

Text: Susanne Riese

Zur Person: 

Prof. Ricarda Steinmayr ist seit 2012 Professorin für Pädagogische und Differentielle Psychologie am Institut für Psychologie an der Fakultät Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bildungsforschung der TU Dortmund. Ricarda Steinmayr hat in Aachen Psychologie studiert. Nach Promotion und Habilitation in Heidelberg war sie von 2010 bis 2012 Professorin für Pädagogische Psychologie an der Universität Marburg.  Ihre Forschungsschwerpunkte sind Determinanten schulischen Leistungsverhaltens und des subjektiven Wohlbefindens, Motivationsentwicklung, Hochbegabung, Diagnostik und Geschlechtsunterschiede.

Ein Portraitfoto von Prof. Ricarda Steinmayr. © Dominik Asbach

Dies ist ein Bei­trag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dort­mund.

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