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Einfach länger arbeiten?

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Es ist ein Straßenschild zu sehen, auf dem oben das Wort Ruhestand und unten das Wort Arbeit geschrieben steht. Neben dem Wort Ruhestand ist ein Pfeil zu sehen, der geradeaus zeigt. Das Wort Arbeit ist mit roter Farbe durchgestrichen. © picture alliance​/​dpa​/​Sina Schuldt

Die Gesellschaften in Europa werden immer älter und stehen daher vor demografischen Herausforderungen. Wäre es möglich, die Lebensarbeitszeit der Bürger*innen zu verlängern, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken und die Alterssicherungssysteme zu entlasten? Das erforscht ein internationales Team, an dem Prof. Monika Reichert von der Fakultät Sozialwissenschaften beteiligt ist.

Eva Domburg ist Bauingenieurin im Ingenieurbüro Meyer und Partner. Sie genießt ihre Arbeit – den Mix aus Planung im Büro und Umsetzung auf der Baustelle. In zehn Monaten hat sie die Regelrentenzeit erreicht und könnte sich zur Ruhe setzen. Schon jetzt sucht ihr Arbeitgeber nach einer Nachfolge für die engagierte Kollegin. Doch der Arbeitsmarkt scheint wie leergefegt. Eva Domburg überlegt deshalb, auch über diesen Zeitpunkt hinaus erwerbstätig zu bleiben und ihren Arbeitgeber weiter zu unterstützen.

Die Situation von Eva Domburg ist keine Ausnahme. So wie der Bauingenieurin geht es vielen älteren Menschen in Deutschland. 2020 gingen bereits 17 Prozent der 65- bis 69-Jährigen einer bezahlten Arbeit nach. In einer immer älter werdenden Gesellschaft könnte die zunehmende Einbindung dieser Menschen in den Arbeitsmarkt einen entscheidenden Beitrag zur Behebung des Fachkräftemangels leisten. Ein Blick auf die aktuellen Bevölkerungszahlen in Deutschland zeigt, wie hoch der Handlungsbedarf ist: Die Zahl der 65-Jährigen und Älteren ist seit 1991 von zwölf Millionen auf 18,3 Millionen im Jahr 2020 deutlich gestiegen. Durch die gleichzeitig sinkende Zahl der jüngeren Menschen hat sich der Anteil der älteren Personen von 1991 bis 2020 von 15 auf 22 Prozent erhöht. Laut Statistischem Bundesamt wird es im Jahr 2030 mehr Erwerbspersonen im Alter von 65 bis 74 Jahren geben als im Alter unter 20 Jahren.

Ein älterer Mann, der einen Schutzhelm und Arbeitsmontur trägt, steht an einem Tisch und arbeitet mit Werkzeug an einer dünnen Holzplatte. © picture alliance​/​Westend61​/​Alvaro Gonzalez
Ältere Arbeitnehmer*innen könnten einen Beitrag gegen den Fachkräftemangel leisten. Im Jahr 2020 standen bereits 17 Prozent der 65- bis 69-Jährigen noch im Beruf.

Die meisten Industrieländer stehen vor dieser Situation. Deshalb gibt es immer wieder die politische Forderung, die Lebensarbeitszeit zu verlängern – auch, um die Alterssicherungssysteme zu stärken. Doch was muss sich ändern, damit ältere Menschen am Arbeitsleben teilhaben wollen? Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit sie teilhaben können?

Foto des EIWO-Teams © Gabriele Ziese​/​Universität Vechta
Das EIWO-Team: Wissen­schaft­ler*innen aus vier Ländern erforschen, was zu berücksichtigen ist, damit Ältere länger arbeiten können und wollen.

Das europäische Forschungsprojekt EIWO geht diesen Fragen nach. 19 Forscher*innen aus Schweden, Großbritannien, Polen und Deutschland arbeiten unter dem Titel „Exclusion and Inequality in Late Working Life“ in neun Teilprojekten daran, ein umfassendes Bild der Arbeitssituation Älterer zu zeichnen. Von der TU Dortmund steuern Prof. Monika Reichert und Nehle Penning wichtige Erkenntnisse bei. Die TU Dortmund schaut dabei auf eine lange Tradition in Bezug auf Alter(n)sforschung zurück. Die bearbeiteten Themen reichen von Pflege, Gesundheit, Bildung und sozialen Beziehungen bis hin zum „Altern in der Arbeitswelt“.

Altern in der Arbeitswelt: vom Individuum bis zur Politik

Im EIWO-Projekt ist der Blick auf verschiedene Ebenen gerichtet. Die Mikroebene stellt das Individuum in den Mittelpunkt: Welche Faktoren beeinflussten und beeinflussen das Arbeitsleben? Welche Gruppen von älteren Arbeitnehmer*innen sind stärker von Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt und sozialer Ungleichheit bedroht bzw. betroffen? Die Mesoebene fokussiert die Unternehmen: In welchen Branchen sind die Risiken für Beschäftigte, verfrüht aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, besonders hoch? Welche Rahmenbedingungen fördern oder hemmen die Bereitschaft, weiter zu arbeiten? Die Makroebene ist die der politischen Gestaltung: Mit welchen politischen Maßnahmen können bessere Voraussetzungen für ein langes, möglichst zufriedenes Arbeitsleben geschaffen werden? Die Forschenden wollen einen umfassenden Einblick bekommen, wo welche Exklusionsrisiken bestehen, die eine Beschäftigung bis zur gesetzlichen Altersgrenze oder darüber hinaus verhindern.

Balkendiagramm zur Statistik der Erwerbstätigkeit in Deutschland im Jahr 2021 © picture alliance​/​dpa​/​dpa-infografik GmbH
Die Babyboomer (Jahrgänge 1957–1969) machten 2021 knapp 30 Prozent der Erwerbstätigen aus. Mit ihnen werden bis 2036 rund 12,9 Millionen Menschen das Renteneintrittsalter überschritten haben. Hier lohnt es sich zu fragen: Unter welchen Bedingungen könnte man länger arbeiten? Das haben die Forscher*innen mit 100 Studienteilnehmer*innen besprochen.

Das Teilprojekt „Mechanisms and Origins of Late Working Life Exclusion“, das die TU Dortmund in der ersten Phase von EIWO betreut, betrachtet die Mikroebene, befasst sich also mit älteren Arbeitnehmer*innen. Monika Reichert und Nehle Penning wollen gemeinsam mit ihren Kolleg*innen durch leitfadengestützte Interviews herausfinden, welche Risiken der Ausgrenzung es im Erwerbsleben aus Sicht der Betroffenen gibt: Was haben sie selbst erlebt und wie sind sie damit umgegangen? Der Interviewleitfaden umfasst Fragen zur aktuellen Erwerbssituation, zu Herausforderungen und Wendepunkten im Arbeitsleben. „Wir wollten wissen: Gab es typische Hindernisse wie Arbeitslosigkeit, Scheidung, gesundheitliche Probleme oder waren die Personen beispielsweise alleinerziehend? Schließlich wollten wir erfahren, was sich die Befragten in ihren jeweiligen Situationen gewünscht hätten. Was hätte ihnen geholfen?“, berichtet Monika Reichert. Auch wollten die Forschenden wissen, wie die Befragten zu einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit stehen. Die Interviews wurden aufgrund der Corona-Pandemie telefonisch oder per Videokonferenz durchgeführt.

100 Interviews in vier Ländern

In den vier beteiligten Ländern wurden jeweils 25 Interviews mit Erwerbstätigen ab 55 Jahren, also insgesamt 100 Interviews, durchgeführt. Als Untersuchungsregion wurde in Deutschland das Ruhrgebiet inklusive Umland ausgewählt. „Es waren sowohl Frauen als auch Männer mit verschiedenen Bildungsniveaus dabei, Arbeitslose und Beschäftigte aus dem öffentlichen Sektor sowie aus der Privatwirtschaft und Menschen mit und ohne Migrationshintergrund“, erklärt Nehle Penning.

Eine Frau sitzt mit einem Laptop an einem Tisch und führt einen Videoanruf mit einer weiteren Frau. In ihrer Hand hält die Frau vor dem Laptop einen Lebenslauf. © insta_photos​/​stock.adobe.com

Die Interviews werden derzeit inhaltsanalytisch ausgewertet. „Die Ergebnisse werden dann mit großen quantitativen Datensätzen aus anderen Teilprojekten in Beziehung gesetzt und ergänzen diese. Dieser Mixed-Methods-Ansatz, bei dem qualitative und quantitative Methoden der empirischen Sozialforschung kombiniert werden, stellt die Forschungsergebnisse auf eine solide Basis“, so Monika Reichert. Aus den Dortmunder Erkenntnissen sollen vier Publikationen entstehen, die vier wichtige Themenfelder umfassen. Die erste Publikation befasst sich mit den Auswirkungen familiärer Ereignisse auf das Erwerbsleben. In der zweiten Veröffentlichung beleuchten die beiden Forscherinnen das lebenslange Lernen – „ein wichtiger Faktor, um Exklusion im Arbeitsleben entgegenzuwirken“, sagt Reichert.

Eine weitere geplante Publikation beschäftigt sich mit dem Einfluss des Arbeitsumfeldes in Unternehmen und Betrieben. Hier soll z.B. gezeigt werden, inwiefern aus Sicht älterer Arbeitnehmer*innen auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird – etwa durch längere Pausen, Gesundheitsförderung und spezielle Weiterbildungsmöglichkeiten. Das vierte große Thema analysiert die Struktur des Arbeitsmarktes im Ländervergleich. „Wir betrachten zum Beispiel den öffentlichen und den privaten Sektor sowie die länderspezifischen Unterschiede in Bezug auf Arbeitsverhältnisse oder Arbeitsschutz“, beschreibt Nehle Penning.

„Da wir in unserem Teilprojekt den gesamten Lebenslauf und die unterschiedlichen Faktoren einbeziehen, erhoffen wir uns auch einen umfassenden Einblick“, sagt Monika Reichert. Gesundheitsförderung, gleiche Bildungs- und Weiterbildungschancen, Weiterentwicklungen bei den Themen Familie und Beruf und Gleichberechtigung – diese Ansätze bringen für alle Seiten Vorteile. Denn: Nachteile, die in der frühen Phase des Lebens auftreten, haben oft Auswirkungen auf das gesamte Arbeitsleben.


Erste Erkenntnisse

Bessere Vereinbarkeit:
Eine besondere Herausforderung im Arbeitsleben ist nach wie vor die Vereinbarkeit des Berufs mit der Versorgung von Kindern oder Pflege von Angehörigen. Hier bedarf es besserer betrieblicher und gesetzlicher Rahmenbedingungen, da die Gefahr der Exklusion insbesondere für Frauen und Alleinerziehende weiterhin groß ist.
Flexibles Rentenalter:
Die Mehrheit der befragten Personen spricht sich gegen ein starres gesetzliches Rentenalter aus. Sie befürwortet eine stärkere Flexibilisierung. Nur so könnten individuelle Wünsche und Bedürfnisse, zum Beispiel in Bezug auf Gesundheit und Privatleben, besser berücksichtigt, ein zu frühes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben vermieden und die Motivation zur Weiterarbeit erhöht werden.
Offener Dialog:
Außerdem braucht es – so eine Mehrheit der Befragten – einen offeneren Dialog über das Altern in der Arbeitswelt. Dabei geht es nicht nur um die Thematisierung der besonderen Belange älterer Arbeitnehmer*innen, wie z.B. gesundheitsfördernde Maßnahmen am Arbeitsplatz, sondern auch um Aspekte eines langfristigen Generationenmanagements in den Betrieben.

Empfehlungen für die Politik

Der Ländervergleich biete tolle Möglichkeiten: „Zum Beispiel können wir beim lebenslangen Lernen schauen, welche Maßnahmen in den unterschiedlichen Ländern auf der Meso- und Makroebene angeboten werden. Mithilfe der Interviews vergleichen wir dann, wie die älteren Arbeitnehmer*innen die jeweiligen Maßnahmen sehen. Sind ihnen Maßnahmen angeboten worden? Haben sie diese genutzt?“, sagt Monika Reichert. Am Ende sollen Empfehlungen für die nationale und europäische Politik stehen, an welchen Stellen angesetzt werden sollte, um Exklusionsrisiken und soziale Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt zu vermeiden.

„Wir wollen mit unserer Forschung erreichen, dass die Bedürfnisse älterer Arbeitnehmer*innen gesehen werden. Dann steigen auch die Motivation und die Bereitschaft, länger zu arbeiten. Denn viele wollen länger teilhaben.“

Prof. Monika Reichert

Die Forscher*innen empfehlen dabei differenzierte Angebote. Handwerker*innen hätten beispielsweise andere Voraussetzungen als Akademiker*innen. Die Erstgenannten seien meist früher ins Berufsleben gestartet und gerade für sie müsse es mehr Angebote geben, auch im Alter noch in andere Bereiche zu wechseln, die körperlich nicht mehr so anspruchsvoll sind. Dabei gehe es dann in erster Linie um die Vermeidung eines vorzeitigen Ausstiegs aus dem Erwerbsleben.

Auch wer im höheren Alter arbeitslos wird, hat es ungleich schwerer, wieder in der Arbeitswelt Fuß zu fassen. Frauen sind durch die familiären Strukturen durchschnittlich häufiger von erwerbslosen Phasen betroffen. All diese Aspekte gilt es zu berücksichtigen, um Exklusionsrisiken abzubauen. „Natürlich können wir nicht von jedem gleichermaßen verlangen, seine Lebensarbeitszeit zu verlängern, aber wir können Bedingungen schaffen, die denen, die noch länger arbeiten möchten, die Möglichkeiten dazu geben“, fasst Monika Reichert zusammen.

Text: Anna-Christina Senske


Zu den Personen:

Prof. Monika Reichert ist seit 2005 Professorin für Soziale Gerontologie mit dem Schwerpunkt Lebenslaufforschung an der Fakultät Sozialwissenschaften. Nach ihrem Diplom in Psychologie an der Universität zu Köln promovierte sie an der Freien Universität Berlin und erlangte 1990 die Doktorwürde. Direkt im Anschluss wechselte sie nach Dortmund, wo sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und später als wissenschaftliche Geschäftsführerin am Institut für Gerontologie beschäftigt war. Monika Reichert hat zahlreiche Forschungsprojekte durchgeführt und war immer wieder zu Forschungsaufenthalten im Ausland. Sie ist seit 2020 Gastprofessorin an der Akdeniz University im türkischen Antalya.

Foto von Prof. Monika Reichert © Aliona Kardash​/​TU Dortmund
Foto von Nehle Penning © Felix Schmale​/​TU Dortmund

Nehle Penning ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Soziale Gerontologie mit dem Schwerpunkt Lebenslaufforschung. Nach dem Bachelorstudium der Soziologie und Volkswirtschaftslehre an der Georg-August-Universität Göttingen – inklusive einem Auslandsaufenthalt an der Universidad Complutense de Madrid und zwei anschließenden Auslandspraktika in Spanien – begann sie 2016 mit dem Masterstudium der Sozialpolitik an der Universität Bremen. Seit 2021 ist sie nun wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im Forschungsprojekt „Exclusion and Inequality in Late Working Life“ (EIWO) an der Fakultät Sozialwissenschaften der TU Dortmund.

Dies ist ein Beitrag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dortmund.

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