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Die Macht der Mode

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Eine Foto-Collage zeigt zwei Fotos von Models mit körperlichen Behinderung auf einem Laufsteg. © picture alliance​/​AP Images​/​Kevin Hagen
New York Fashion Week 2018: Bei der Laufstegshow der „Runway of Dreams Foundation“ trugen Models mit Behinderungen adaptive Kleidung.

Kleidung hilft dabei, Identität zu stiften und zu konstruieren. Doch besteht diese Möglichkeit auch für Menschen mit Behinderung? Während sie in der Modebranche und der Werbung immer sichtbarer werden, ist es noch ein weiter Weg bis zu einer echten barrierefreien Teilhabe an der Mode, erklärt Dr. Beate Schmuck vom Seminar für Kulturanthropologie des Textilen.

In der UN-Behindertenrechtskonvention kommt das Wort „Kleidung“ nicht vor – dabei gehört der Zugang zu Mode zu einer gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft. Auch wenn Menschen mit Behinderung in Mode und Werbung immer sichtbarer werden – eine echte, barrierefreie Teilhabe an der Mode ist damit (noch) nicht verbunden, sagt Dr. Beate Schmuck vom Seminar für Kulturanthropologie des Textilen an der Fakultät Kunst- und Sportwissenschaften. Als eine der ersten Forscher*innen führt sie Fashion Studies und Disability Studies zusammen.

„Dass zum Menschenrecht auf Selbstbestimmung auch die Kleiderwahl gehört, wird noch nicht überall gesehen und gelebt.“  Dr. Beate Schmuck

Aimee Mullins war Anfang 20 und bereits eine erfolgreiche Leistungssportlerin, als sie zum ersten Mal auf dem Laufsteg stand: Die hübsche und durchtrainierte Amerikanerin durfte eine Alexander-McQueen-Kollektion für Givenchy vorführen. Damit sorgte sie weltweit für Aufmerksamkeit – und Entsetzen. Warum? Das Model Aimee Mullins trug handgeschnitzte Holzstiefel, denn ihre eigenen Beine enden am Knie.

Ohne Wadenbeine zur Welt gekommen, wurden Mullins bereits im Säuglingsalter beide Unterschenkel amputiert. Seit dem Kindesalter trug sie daher Prothesen, mit denen sie es als Leichtathletin bis zu den Paralympischen Spielen gebracht hatte. Auf dem Laufsteg jedoch, auf dem Schönheit in Kilogramm und Zentimetern gemessen und Perfektion mit absoluter Makellosigkeit gleichgesetzt wird, kam ihr Auftritt einem Skandal gleich. Die Süddeutsche Zeitung schrieb von einer „Gratwanderung zwischen Schock und Schick“, die französische Tageszeitung Le Figaro von „Ausbeutung“.

„Aufmerksamkeitsstarker Marketing-Scoop“

Das war Ende der 1990er-Jahre, vor gut einer Generation. War die mutige Inszenierung damals eine Art Startschuss für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung an der Haute Couture? Und, noch wichtiger: Sind sie seitdem sichtbarer, werden ihre Bedürfnisse von der Textilindustrie inzwischen stärker berücksichtigt?

„Erst einmal war die Modenschau mit Aimee Mullins ein aufmerksamkeitsstarker Marketing-Scoop – und traf sie den Nerv der Zeit“, urteilt Beate Schmuck. Die Kulturwissenschaftlerin beschäftigt sich am Institut für Kunst und Materielle Kultur mit Mode und Behinderung und hat den Forschungsband „Fashion Dis/ability“ herausgegeben – eine interdisziplinäre Publikation, die Ansätze aus der kulturanthropologischen Bekleidungs- und Modeforschung, den Rehabilitationswissenschaften und den interdisziplinären Disability Studies einbezieht.

Die Beinprothese-tragende Schauspielerin und Sportlerin Aimee Mullins posiert auf einem roten Teppich. © picture alliance​/​dpa​/​Ali Haider
Als Aimee Mullins Ende der 1990er-Jahre mit Beinprothesen über den Laufsteg läuft, sorgt das für Aufsehen und Entsetzen. Auch eine Generation später ist der Anblick von Menschen mit Behinderung auf dem Catwalk noch nicht selbstverständlich.
Die Miss-Germany-Kandidatin Gina Rühl trägt eine Armprothese und posiert für ein Foto. © picture alliance​/​Eibner-Pressefoto​/​BW-Foto
Mit Gina Rühl nimmt bei der Miss Germany-Wahl 2022 erstmals eine armamputierte Kandidatin teil – und in der Berichterstattung wird vor allem das Nicht-Normale betont.

„Um die Zeit des Milleniumwechsels gab es in der Modewelt einen Paradigmenwechsel. Designer*innen setzten sich mit der Vergänglichkeit auseinander. Bis dato gültige ästhetische Kriterien wurden aufgebrochen, das Schöne dekonstruiert“, sagt Schmuck. In diesem Kontext war auch Behinderung kein Tabu mehr. Aber war dies auch ein Wendepunkt, ein Zeichen für ein wirkliches Umdenken? Beate Schmuck ist skeptisch – sie stellt fest, dass sich die Geschichte wiederholt. Eine Generation später ist der Anblick von Menschen mit Behinderung in der Werbung und auf dem Catwalk kein Schock mehr – aber auch noch lange nicht „normal“. Ein Beleg dafür sind in ihren Augen die vergangenen Wahlen zur Miss Germany. „Erstmals nahm dort mit Gina Rühl eine armamputierte junge Frau teil“, so Schmuck. „Sie war im Vorfeld in den Medien omnipräsent – aber in der Berichterstattung wurde gerade das Nicht-Normale betont: Die Miss-Germany-Anwärterin galt als ‚trotzdem schön‘ oder ‚dennoch weiblich‘“, sagt Schmuck.

Auch Kleidung kann behindern

Die Präsenz von Menschen mit Behinderung in Schönheitswettbewerben und auf Modenschauen ist das eine – die vestimentäre Inklusion im Alltag das andere. Der Begriff bezeichnet die Möglichkeit für Menschen mit einer Behinderung, sich und den eigenen Körper durch Kleidung genauso zu inszenieren, wie es Menschen ohne Behinderung tun können. Es geht nicht nur darum, am Modegeschehen teilzuhaben, sondern um funktionale und passende Bekleidung für alle Gelegenheiten – von der Sport- bis zur Abendgarderobe.

„Kleidung ist ein ganz wichtiger Faktor der Identitätsfindung und -konstruktion, mit Kleidung kommunizieren wir, grenzen wir uns ab“, sagt Beate Schmuck.  In den vergangenen Jahrhunderten und teilweise noch heute schuf und schafft Mode auch Behinderungen, indem sie Oberkörper in Korsetts und Corsagen zusammenschnürte oder Füße in ungesunde High Heels zwängt.  Zudem ist es häufig gerade ihr Zweck, sich abzugrenzen oder einer exklusiven Gruppe zuzuordnen. Dennoch hat Mode eine inklusive Kraft, wenn ihr Potenzial nur allen Menschen zur Verfügung steht. Und das, sagt Beate Schmuck, ist noch lange nicht der Fall.

Prothesen als Accessoire

Tatsächlich war die Sportlerin Aimee Mullins nicht nur die erste Frau ohne Beine auf einem Laufsteg. Sie schaffte es auch, ihre Behinderung umzudeuten – mit Hilfe der Mode. Denn Mullins besitzt gleich ein Dutzend Beinprothesen in verschiedenen Designs und Längen, die sie nach Belieben wechselt. „Sie nutzt sie wie ein Accessoire, kann zum Beispiel ihre Körpergröße mit ihnen beeinflussen, und hat dadurch einen vermeintlichen Nachteil in einen Vorteil verkehrt“, sagt Schmuck.

Diese Möglichkeiten einer sportlichen und gut ausgebildeten jungen Frau hat längst nicht jeder Mensch mit Behinderung, und selbstverständlich wurde Mullins auch für ihre Haltung kritisiert, die nahelegt, dass es jede*r schaffen kann, so wie sie selbst. Dennoch ist Mullins ein prominentes Sprachrohr, eine Vorreiterin. Und inzwischen unterstützen auch das Internet und soziale Medien das Empowerment und ermöglichen sie es Menschen mit Behinderung, an den Entwicklungen teilzuhaben. „Es gibt einen wachsenden Markt für Modeblogs und spezialisierte Onlineshops, die sich dem vestimentären Empowerment widmen“, weiß Beate Schmuck: Da werden Designkonzepte für adaptierte Modemodelle vorgestellt, Tipps und Erfahrungen ausgetauscht. Viele kleine Unternehmen oder Selbstständige haben hier ihre Nischen gefunden, wie etwa das Label Auf Augenhöhe. Das Unternehmen, das 2017 gegründet wurde und in Berlin ansässig ist, entwirft Mode für die speziellen Proportionen kleinwüchsiger Menschen. 

Bei großen Textilunternehmen ist das Thema noch nicht wirklich angekommen. Ein Vorreiter auf dem internationalen Markt ist das Label Tommy Hilfiger, das schon 2016 neben der Regel-Kollektion eine identische Kollektion für Rollstuhlfahrer*innen entworfen hat. Diese „adaptive“ oder auch barrierefreie Mode kann von allen Menschen getragen werden, ob im Rollstuhl sitzend oder nicht, mit Prothesen oder ohne. Da lassen sich Knöpfe leichter öffnen oder werden durch Klett- oder Magnetverschlüsse ersetzt, die Kleidung lässt sich leicht über den Gips oder die Prothese ziehen, die Schnitte sind weniger eng und die Passformen nicht ausschließlich für stehende Menschen bzw. normierte Körper entwickelt.

Empowerment-Konzepte für die Praxis

Das Werbefoto der Marke Tommy Hilfiger zeigt ein männliches Model mit Armprothese auf einem Holzsteg am Ufer eines Sees. In der Hand hält er ein Paddel.  © ePressPack​/​newsroom.tommy.com
Als erstes großes Modeunternehmen bietet Tommy Hilfiger seit 2016 aktuelle Kollektionsmodelle an, die für Menschen mit Behinderung angepasst sind.

Auf die Idee, Fashion Studies mit Disability Studies auch wissenschaftlich zusammenzudenken, kam Beate Schmuck dank der guten Nachbarschaft der Fakultäten Kunst- und Sportwissenschaften und Rehabilitationswissenschaften an der TU Dortmund. „Unsere Sonderpädagogik-Studierenden berichteten immer wieder aus der Praxis, dass Menschen mit Behinderungen in den Einrichtungen, in denen sie leben, fremdbestimmt gekleidet werden – zum Beispiel rein funktional, mitunter gar infantilisierend“, sagt Beate Schmuck. „Dass zum Menschenrecht auf Selbstbestimmung auch die Kleiderwahl gehört, wird noch nicht überall gesehen und gelebt.“

Beate Schmuck organisierte eine interdisziplinäre Tagung über „Inklusive Mode, Projekte und textilanthropologische Reflexionen“ unter der Überschrift „Fashion(dis)ability?“. Die Klammer im Titel spielt damit, dass ein Unvermögen, eine Unfähigkeit auch auf Seiten der Fashion-Industrie zu suchen ist, die in ihren Kollektionen ausschließlich auf Standardmaße programmiert ist.

Eine Frau mit seitlich gekrümmter Wirbelsäule steht neben einer Schaufensterpuppe, die ihrer von der Norm abweichenden Körperform nachempfunden ist. © Jung von Matt
Um auf die Dissonanz zwischen gesellschaftlichen Normvorstellungen und der Realität aufmerksam zu machen, erstellte Pro Infirmis, eine Schweizer Organisation für Menschen mit Behinderung, 2013 im Rahmen des Projekts „Wer ist schon perfekt?“ maßstabsgetreue Schaufensterfiguren von Personen mit abweichenden Körpern.
Zwei kleinwüchsige Frauen stehen vor einer Betonwand und tragen schlichte Kleidung der Marke "Auf Augenhöhe". © Anna Spindelndreier
Das Label Auf Augenhöhe bietet Mode für kleinwüchsige Menschen.

Die Tagung mündete nicht nur in eine Publikation, sondern auch in viele Forschungsarbeiten, in denen Studierende Empowerment-Konzepte für die Praxis entwickelten. So hat eine Absolventin ein spezifisches Förderprogramm erarbeitet, mit dem ein geistig behindertes Mädchen der Umwelt ihre Kleidungsvorlieben mitteilen kann. Hose oder Kleid, weiche Stoffe, farbig oder schwarz – die 16-Jährige kann beim Shoppen nun mitteilen, was sie mag. Eine weitere Arbeit beschäftigte sich mit Menschen mit einer autistischen Störung. Diese kleiden sich häufig unbewusst auffällig, weil sie an ihre Kleidung besondere Ansprüche haben. „Viele ertragen nur weiche und bequeme Kleidungsstücke, es darf nichts drücken oder stören, auch bestimmte Muster oder Farben können auf Abwehr stoßen“, sagt Beate Schmuck. Daher beschäftigt sich eine Abschlussarbeit damit, wie man schrittweise mehr Varianz in die Kleiderauswahl bringen kann.

Das sind viele kleine Schritte auf dem Weg in eine Zukunft, in der Menschen mit Behinderung nicht als „disabled“, sondern, wie die Sportlerin Aimee Mullins es ausdrückt, im besten Fall als „superabled“ gesehen werden – mindestens aber bekleidungstechnisch gleiche Chancen haben.

Text: Katrin Pinetzki

Zur Person

Dr. Beate Schmuck studierte Textilgestaltung, Mathematik und Erziehungswissenschaft und absolvierte im Anschluss ein Promotionsstudium der Vergleichenden Kulturgeschichte des Textilen sowie ein Studium der Organisationspsychologie an der TU Dortmund. Nach ihrer Promotion zum Thema „Mustertücher – Dokumente textiler Mädchenerziehung im 18. und 19. Jahrhundert“ war sie 13 Jahre lang als Lehrerin in Dortmund tätig und arbeitete parallel als Lehrbeauftragte am Institut für Textilgestaltung und ihre Didaktik an der TU Dortmund. Seit 2006 ist Beate Schmuck Akademische Oberrätin am Institut für Kunst und Materielle Kultur an der TU Dortmund.

Ein Portrait-Foto der Expertin für Textil-Geschichte Dr. Beate Schmuck © Felix Schmale​/​TU Dortmund

Dies ist ein Beitrag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dortmund.

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