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„Best experience of my life“

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Die Flaggen mehrerer europäischer Staaten wehen vor einem verschneiten Bergpanorama. © Maximilien Brice​/​CERN

Die Teilchenphysiker Prof. Johannes Albrecht und Prof.Kevin Kröninger arbeiten in der Forschung und bei der Ausbildung des Nachwuchses in internationalen Kooperationen. Mit ihren vielfältigen Angeboten begeistert die Fakultät zum Beispiel die Studierenden ihres internationalen Masterstudiengangs IMAPP.

Bologna oder Dortmund? In einem Ranking attraktiver Reiseziele ist klar, welche der beiden Städte vorne liegt. Fragt man nicht Touristen, sondern Studierende, kann die Reihenfolge durchaus anders sein. Zwei junge Teilchenphysiker aus der norditalienischen Universitätsstadt verbrachten das Sommersemester im Rahmen des internationalen Masterstudiengangs IMAPP an der TU Dortmund und waren begeistert von ihrem Aufenthalt. „Mit ihrer historischen Altstadt ist Bologna nicht mit dem Ruhrgebiet vergleichbar, und wir versuchen auch nicht, uns gegenseitig auszuspielen, aber wir haben hier in Dortmund Rahmenbedingungen in Forschung und Lehre, die die Studierenden aus dem Ausland sehr schätzen“, sagt Prof. Johannes Albrecht von der Fakultät Physik. Sein Kollege Prof. Kevin Kröninger hat gemeinsam mit Partnern der Universitäten Bologna und Clermont Auvergne den International Master of Advanced Methods in Particle Physics, kurz IMAPP, aus der Taufe gehoben – der einzige internationale Master mit gemeinsamem Abschluss an drei Universitäten, den es in diesem Bereich gibt. In Dortmund sind alle Professor*innen aus der Teilchenphysik daran beteiligt.

Albrecht und Kröninger sind als Fachleute für experimentelle Teilchenphysik gleichzeitig Experten für internationale Kooperationen. Beide arbeiten am Forschungszentrum CERN in der Schweiz an Experimenten mit über 5.000 Forschenden aus aller Welt zusammen. „Wir treiben es in unserer Disziplin in dieser Hinsicht wirklich auf die Spitze“, sagt Kevin Kröninger. Das liegt daran, dass die Forschungsgemeinschaft der Teilchenphysik mit dem CERN einen Ort mit ungeheurer Anziehungskraft hat. Dort läuft der Large Hadron Collider (LHC) – der mächtigste Teilchenbeschleuniger der Welt. In der 27 Kilometer langen Röhre unter der Erde werden Pakete von Protonen nahezu auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und zur Kollision gebracht. Dabei entstehen Milliarden von Elementarteilchen. Komplexe Detektoren zeichnen ihre Spuren, ihre Energie und ihren Zerfall auf und liefern damit jede Menge Daten aus Experimenten.

Ein Labor mit zahlreichen Kabeln, Gerüsten und einer Hebebrücke innerhalb eines Teilchenbeschleunigers. © Janina Nicolini​/​TU Dortmund
Nach dem umfassenden Upgrade des Teilchenbeschleunigers in den vergangenen Jahren mussten auch die Detektoren aufgerüstet werden. Der neue Detektor am LHCb-Experiment – schwarzer Block – wurde von Physiker*innen der TU Dortmund um Prof. Johannes Albrecht mitentwickelt und gebaut.
Die Illustration zeigt ein Pentaquark-Teilchen, zwei Kugeln nebeneinander, die jeweils zwei bzw. drei kleinere Kugeln enthalten. © Daniel Dominguez​/​CERN
Mit Großexperimenten am CERN sind Physiker*innen aus aller Welt auf der Suche nach neuen Teilchen. Die Illustration zeigt ein Pentaquark-Teilchen, das am LHCb-Experiment entdeckt wurde.

Eins von vier Großexperimenten ist das LHCb-Experiment. Professor Albrecht und Forschende aus aller Welt sind hier seltenen Zerfällen von B-Mesonen – auch Beauty-Teilchen  genannt – auf der Spur. Dabei interessiert ihn insbesondere das Rätsel, warum in unserem Universum kaum Antimaterie zu finden ist, obwohl laut Theorie doch Materie und Antimaterie im Urknall zu gleichen Teilen entstanden sind. Um vergleichbar fundamentale Fragen geht es beim ATLAS-Experiment, an dem Professor Kröninger mitarbeitet. Im Jahr 2012 wurde das Experiment am CERN durch den Nachweis des Higgs-Bosons berühmt. Damals dachte man, dass damit das letzte Puzzleteil zur Erklärung unserer materiellen Welt gefunden sei.

Heute weiß man, dass es weitere Teilchen oder Phänomene jenseits des Standardmodells geben muss. Denn es beschreibt eben nur den sichtbaren Teil des Universums, und der macht gerade mal geschätzt fünf Prozent aus. Die dunkle Seite unserer Welt zu entdecken, die nicht wechselwirkt mit dem Licht, ist Ziel des ATLAS-Experiments.

Drei Länder – ein Abschluss

Zurück nach Dortmund: Die ersten IMAPP-Absolvent*innen stehen kurz vor ihrem Abschluss, und das Fazit nach zwei Jahren könnte euphorischer nicht sein: „Best experience of my life“, formulierte es einer der sechs Studierenden aus der ersten Kohorte. Der Ursprung der Erfolgsgeschichte liegt acht Jahre zurück. Aus einer internationalen Sommerschule auf Korsika entstanden Tandem-Projekte, in denen Studierende aus verschiedenen Universitäten über ein Semester verteilt an einem gemeinsamen Thema arbeiteten. „Dann wurden gemeinsame Lehrveranstaltungen geplant und per Video gestreamt, und schließlich kamen wir auf die Idee, einen internationalen Masterstudiengang für Teilchenphysik anzubieten“, erklärt Kröninger. Weitere zwei Jahre dauerte es, diesen Studiengang zu konzipieren und die Verträge zwischen den drei Universitäten abzuschließen.

„Für unseren internationalen Masterstudiengang können wir pro Jahr 18 gut ausgestattete Stipendien vergeben.“ Prof. Kevin Kröninger

IMAPP orientiert sich an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Wirtschaft: So stehen auch Statistik und Künstliche Intelligenz, die Entwicklung von Detektoren sowie Elektronik und Informatik auf dem Lehrplan. In Dortmund geht es insbesondere um Instrumentierung, also die technische Seite der experimentellen Teilchenphysik. Eine weitere Besonderheit des Konzeptes: Die Studierenden eines Jahrgangs bleiben als Gruppe zusammen und wechseln gemeinsam von Clermont nach Dortmund und weiter nach Bologna. Erst im vierten und letzten Semester trennen sich ihre Wege. „Für die Masterarbeit gehen die jungen Leute an eine unserer Partner­universitäten in verschiedenen Ländern der Welt“, sagt Kröninger.

Nach dem Start mit sechs bzw. neun IMAPP-Studierenden strebt die TU Dortmund langfristig eine Zahl von rund 30 Einschreibungen pro Studienjahr an. Beflügelt werden könnte das Interesse durch jüngst bewilligte Fördermittel der Europäischen Union in Höhe von insgesamt 4,5 Millionen Euro für ein Erasmus Mundus-Programm. „Damit können wir pro Jahr 18 gut ausgestattete Stipendien für den internationalen Master vergeben“, freut sich Kröninger.

Eine Person mit langen blonden Locken trägt eine Europaflagge hinter sich aufgespannt. © weyo​/​stock.adobe.com
Die Studierenden des Teilchenphysik-Masters IMAPP sammeln wertvolle internationale Erfahrungen: Ihr Studium findet in Dortmund, Bologna und Clermont-Ferrand statt.

Wer will, kann direkt in einem vergleichbaren Modus international weiterforschen. Denn unabhängig von Fördermitteln bietet die TU Dortmund schon seit Jahren für angehende Doktorand*innen im Bereich Teilchenphysik eine bi-nationale Betreuung gemeinsam mit Partnerhochschulen in Frankreich und Italien an. In einem sogenannten Cotutelle-Verfahren vergeben beide Universitäten gleichzeitig eine Promotion – ein Doppelabschluss, der in der Regel auch mit gegenseitigen Forschungsaufenthalten verbunden ist.

Datenanalyse in Echtzeit

Noch intensiver als im Studium beschäftigen sich Promovierende im Bereich der Teilchenphysik mit Datenanalyse. Denn eines haben alle Experimente der Hochenergiephysik (HEP) gemeinsam: Sie produzieren gigantische Mengen von Daten – bis zu 40 Terabyte pro Sekunde! Das entspricht ungefähr der Speicherkapazität von 10.000 herkömmlichen Blu-ray-Discs. „Solche unvorstellbar hohen Datenmengen können nur effizient genutzt werden, wenn man sie in Echtzeit analysiert und nicht erst speichert, um sie in einem zweiten Schritt zu prozessieren. Dafür ist das Volumen einfach zu groß“, erklärt Johannes Albrecht. Neue Techniken der „Real Time Analytics“ (RTA) markieren nicht nur einen Paradigmenwechsel in der Teilchenphysik. Denn die Analyse von Daten spielt mittlerweile in vielen Branchen und der Entwicklung ganz unterschiedlicher Technologien eine Schlüsselrolle. Albrecht nennt als Beispiele den Finanzmarkt oder auch selbstfahrende Autos: „Überall müssen Daten in Echtzeit ausgewertet werden, damit Analyst*innen gute Entscheidungen für Kapitalanleger treffen oder selbstfahrende Fahrzeuge im richtigen Moment bremsen.“

Schon seit Jahren sind Physiker*innen deshalb als Fachleute im Umgang mit großen Datenmengen gefragt. 90 Prozent der Absolvent*innen arbeiten nach dem Master oder der Promotion in der Industrie. Hier setzt „SmartHEP“ an, ein internationales Promotionsnetzwerk, das den Wissenschaftsnachwuchs aus der Teilchenphysik mit Spezialist*innen aus der Informatik und der Industrie zusammenbringt. „Wir gehen mit dem Netzwerk einen Schritt auf die Realität zu. Wir bilden den Nachwuchs nicht mehr nur implizit für den Markt aus, indem wir ihn mit Methoden des maschinellen Lernens Beschleuniger-Daten analysieren lassen. Wir schicken die jungen Menschen jetzt direkt zu verschiedenen Industriefirmen und lassen sie dort ganz praktische Arbeiten machen“, sagt Johannes Albrecht.

Durch eine Reihe von Drähten und bunten Kabeln in einem Labor ist ein Mitarbeiter in Schutzkleidung zu sehen. © Maximilien Brice​/​CERN
Wer Teilchenphysik studiert oder in dem Bereich promoviert, wird unweigerlich Spezialist*in für Datenanalyse, denn all die großen Experimente produzieren gigantische Datenmengen.

Für den Physikprofessor ist das neue Modell eine Gratwanderung, denn bei einer Promotion sollte immer Grundlagenforschung im Mittelpunkt stehen. Deshalb seien die Praktika in der Industrie auch mit zwei bis vier Monaten vergleichsweise kurz bemessen. Johannes Albrecht betreut im Rahmen von SmartHEP aktuell eine Doktorandin aus Italien und einen jungen Forscher aus England. Die Italienerin arbeitet neben dem wissenschaftlichen Teil ihrer Promotion bei einem Dortmunder Startup, das sich den Slogan „Data Matters“ zu eigen gemacht hat und Methoden der Datenanalyse für die Industrie umsetzt. Der Brite beschäftigt sich im Hauptteil seiner Promotion mit Algorithmen, die Daten in Echtzeit filtern. Für das Praktikum geht es nach Lund, Schweden, zu einer Firma, die selbstfahrende Autos entwickelt.

Eine Gruppe junger Menschen posieren für ein Gruppenfoto vor einem Gebilde aus weißem Metall. © Caterina Doglioni
Das internationale Promotionsnetzwerk „SmartHEP“ bringt den Wissenschaftsnachwuchs aus der Teilchenphysik mit Spezialist*innen aus der Informatik und der Industrie zusammen, hier bei einem Treffen in Manchester.

Bewerbung um Exzellenzcluster

Bei allen Möglichkeiten, die die Übertragung von Methoden der Echtzeitanalyse aus der Physik auf Anwendungen in der Industrie eröffnen, darf die Grundlagenforschung nicht aus dem Blick geraten. Und hier gibt es noch ein erhebliches Potenzial, sind sich die TU-Professoren Albrecht und Kröninger sicher. Deshalb haben sie gemeinsam mit den Universitäten Bonn und Siegen sowie dem Forschungszentrum Jülich einen Antrag auf Förderung als „Exzellenzcluster“ im Rahmen der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern gestellt. Sieben bis acht Professuren wollen die Partner berufen, um gemeinsam an der Erforschung der Elementarteilchen weiterzuarbeiten. „Die Standorte ergänzen sich sehr gut“, erklärt Albrecht. Jeder sei spezialisiert auf die Erforschung bestimmter Quarks. „Das Cluster würde es uns ermöglichen, die Forschung auf ein anderes Level zu heben und eine gemeinsame Struktur aufzubauen, um alle sechs Quarks sowohl von der experimentellen als auch von theoretischer Sicht in ihrer Gesamtheit anzuschauen“.

Im Kern geht es wieder um die großen Fragen: Wie ist unser Universum aufgebaut, was ist dunkle Materie, und warum gibt es keine Antimaterie? Aber Grundlagenforschung habe immer auch ein ungeheures Transferpotenzial, betont Kröninger, und auch in dieser Hinsicht könnte das Cluster Wirkung zeigen. Er nennt als Beispiel die Strahlentherapie zur Behandlung von Krebs, die ohne die Beschleunigertechnologien nicht auf dem heutigen Stand wäre, und den Klassiker World Wide Web, das am CERN entstanden ist.

Text: Christiane Spänhoff


Zu den Personen:

Prof. Dr. Johannes Albrecht ist in Darmstadt aufgewachsen und hat in Heidelberg und Sydney Physik studiert. Nach seiner Promotion in Heidelberg 2009 arbeitete er für drei Jahre am Europäischen Forschungszentrum CERN in der Schweiz. 2013 kam er über das Emmy-Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Lehrstuhl für experimentelle Physik V an die TU Dortmund. Seit 2020 hat er hier die Professur für experimentelle Flavourphysik (Heisenberg-Professur) inne. Die Arbeitsgruppe von Prof. Albrecht beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit experimenteller Teilchenphysik und medizinischer Physik.

Portraitbild eines Mannes, der eine Brille und ein weißes Hemd trägt. © Hesham Elsherif
Portraitbild eines Mannes mit Brille auf dem Gang eines Bürogebäudes. © Felix Schmale

Prof. Dr. Kevin Kröninger wurde in Mainz geboren. Er studierte Physik an den Universitäten Göttingen und Bonn sowie der Northeastern University in Boston. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Physik promovierte er 2007 an der TU München. Nach seiner Habilitation in Göttingen kam er 2014 an die TU Dortmund und hat dort eine Professur für experimentelle Elementarteilchenphysik inne. Die Arbeitsgruppe von Prof. Kröninger beschäftigt sich mit Fragestellungen in der experimentellen Teilchenphysik und der Medizinphysik sowie dem Technologietransfer zwischen den beiden Gebieten.

Dies ist ein Beitrag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dortmund.

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