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Abbau von Kompetenzhierarchien

Nichtwissen in der Coronakrise – Wie Krankenhäuser dies handhaben

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Eine Frau lächelt in die Kamera © Nikolas Golsch​/​TU Dortmund
Prof. Maximiliane Wilkesmann ist seit 2010 an der TU Dortmund tätig.

Die Soziologin Prof. Maximiliane Wilkesmann erforscht, wie medizinisches Personal damit umgeht, etwas nicht zu wissen – auch in Hinblick auf das Coronavirus.

„Wissen ist Macht“ – so lautet ein bekanntes Sprichwort, das auf den englischen Philosophen Francis Bacon zurückgeht. Bedeutet Nichtwissen demzufolge Ohnmacht? Nein, sagt Prof. Maximiliane Wilkesmann von der Fakultät Sozialwissenschaften der TU Dortmund. Sie forscht seit 15 Jahren zum Krankenhaus als Organisation und untersucht seit 2010 speziell den Umgang mit Nichtwissen und Unsicherheit in Krankenhäusern. Angesichts des neuartigen Virus Sars-CoV-2, auf dessen Ausbruch niemand vorbereitet war, ist ein Gefühl von Ohnmacht und Unsicherheit nachvollziehbar. Doch geht man offen mit Nichtwissen um, ist neuem Erkenntnisgewinn der Boden bereitet.

(Un-)Sicherheit und (Nicht-)Wissen gehen Hand in Hand

Voraussetzung ist zu erkennen und zu wissen, dass man etwas nicht weiß. Wilkesmann spricht in diesem Fall von bekanntem Nichtwissen. Sie unterscheidet vier Phasen, in denen Nichtwissen und Unsicherheit zusammenspielen: Am Anfang ihrer Laufbahn befinden sich die noch unerfahrenen Ärztinnen und Ärzte in einer Phase der begründeten Unsicherheit. Allen ist klar, dass sie vieles noch nicht wissen können und Entscheidungen oftmals durch erfahrene Kolleginnen und Kollegen abgesichert werden müssen. Zu viel positive Rückmeldung kann in dieser Phase dazu führen, dass sich angehende Ärztinnen und Ärzte zu sicher fühlen und mitunter Fehler begehen, weil sie sich überschätzen. „In diesem Fall sprechen wir von einer unbegründeten Sicherheit“, erklärt Wilkesmann. Beide Phasen, die begründete Unsicherheit und die unbegründete Sicherheit, lassen sich momentan auch auf den Umgang mit Nichtwissen in der Coronakrise übertragen: Zu Beginn der Pandemie herrschten aufgrund der Neuartigkeit des Virus viel bekanntes Nichtwissen und eine begründete Unsicherheit.

„Aktuell könnten wir aufgrund der sinkenden Reproduktionsrate womöglich in die Phase der unbegründeten Sicherheit wechseln. Nichtwissen wird in dieser Phase häufig unterschätzt und eigentlich vorhandenes Wissen ignoriert. Das kann gefährlich werden“, sagt Wilkesmann. In dieser Zeit ist es wichtig, dass Wissensgrenzen immer wieder aufgezeigt und bewusst gemacht werden. Als dritte Phase folgt die unbegründete Unsicherheit, bei der Ärztinnen und Ärzte sich und ihr Wissen wieder (zu) stark hinterfragen. In der letzten Phase der begründeten Sicherheit überwiegt aufgrund der langjährigen Erfahrung das bekannte Wissen und Nichtwissen wird in das Handeln fest einkalkuliert. Das macht es möglich, souverän zu handeln und zu entscheiden. Übertragen auf den Umgang mit dem Coronavirus würde dies bedeuten, dass ein Meilenstein erreicht worden wäre, etwa die Entwicklung eines nachweislich wirksamen Medikaments oder eines Impfstoffs. „Wir konnten in unserer bisherigen Forschung feststellen, dass Wissen und Nichtwissen auf der einen Seite und Sicherheit und Unsicherheit auf der anderen Seite nicht jeweils als Schwarz-Weiß-Gegensätze existieren. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel aller Dimensionen“, erklärt Wilkesmann.

Abbau von Kompetenzhierarchien während der Coronakrise

Im Medizinbereich wird klar zwischen der Chefarzt-, Oberarzt-, Fach- und Assistenzarztebene unterschieden. Zusätzlich gibt es in Krankenhäusern horizontale Kompetenzhierarchien, bei denen die Ärzteschaft den Pflegekräften statusmäßig überlegen ist. Der Führungsanspruch, den sie gegenüber den Pflegerinnen und Pflegern erheben, begründet sich vor allem dadurch, dass sie bei therapeutischen Entscheidungen juristisch letztlich die Verantwortung tragen. Die Hierarchien und der Umgang mit Nichtwissen haben sich während der Coronakrise nun gewandelt: Da alle wenig Erfahrung haben, gehen Ärztinnen und Ärzte deutlich ehrlicher mit Nichtwissen um.

Nach der Krise Rückkehr zu gewohnten Formen

„In Krisenphasen ist man eher bereit, eigenes Nichtwissen zuzugeben und steht auch Anregungen, die von anderen Berufsgruppen kommen, offener gegenüber“, sagt Wilkesmann. Dies zeigt unter anderem folgendes Beispiel: Wenn Patientinnen oder Patienten, die aufgrund einer schweren Covid-19-Erkrankung beatmet werden, umgelagert werden müssen, sind eine sorgfältige Vorbereitung und genaue Abstimmung zwischen ärztlichem und pflegendem Personal erforderlich. Die Pflege hat zudem über Jahre Standards entwickelt, wie bettlägerige Personen am besten gelagert werden. Das macht Pflegekräfte gerade jetzt zu gefragten Expertinnen und Experten, weshalb auch ihre Vorschläge und Anregungen ernster genommen werden.

Wilkesmann geht davon aus, dass nach der Krise die alten Kompetenzhierarchien wiederhergestellt werden – und das sei grundsätzlich auch gut so: „Die Hierarchien sind für beide Berufsgruppen wichtig, weil dadurch Entscheidungen nach oben hin abgesichert werden können.“ Allgemein herrscht im Krankenhaus allerdings nach wie vor eine „negative Fehlerkultur“, die es dem medizinischen und pflegerischen Personal schwermacht, mögliche Fehler zuzugeben: „Dass dies immer noch der Fall ist, zeigt der jüngst bekannt gewordene Fall vom Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg, wo sich Teile des Personals sowie Patientinnen und Patienten der Leukämiestation mit Sars-CoV-2 infiziert haben. Dies wurde erst mit Verzögerung an die zuständigen Behörden gemeldet.“ In mehreren Krankenhausstudien mit rund 3.000 Befragten hat Wilkesmann unter anderem herausgefunden, dass den Beteiligten ein offener und konstruktiver Umgang mit Nichtwissen grundsätzlich wichtig ist. Hier könnte die derzeitige Corona-Pandemie nachhaltig zu einem Wandel führen.
 

Zur Person:
Maximiliane Wilkesmann ist seit 2010 an der TU Dortmund tätig – zunächst als Juniorprofessorin, später als Vertretungsprofessorin für Wirtschafts- und Industriesoziologie und für Sozialstruktur und Soziologie alternder Gesellschaften. 2018 wurde sie zur außerplanmäßigen Professorin ernannt und im Sommer 2019 ins Heisenberg-Programm der DFG aufgenommen. Anfang April wurde für sie eine Heisenberg-Professur für Arbeits- und Organisationssoziologie II an der neu gegründeten Fakultät Sozialwissenschaften eingerichtet.
 

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