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Internationale Vergleichsstudie

Lesekompetenz von Grundschulkindern weiter gesunken

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Vier Kinder schauen in ein Buch © serezniy​/​Shotshop.com
Rund ein Viertel der Viertklässler*innen erlangt laut der IGLU-Studie nicht das Niveau, das zum Lernen durch Lesen notwendig wäre.

Prof. Nele McElvany von der TU Dortmund präsentierte am 16. Mai in Berlin die neusten Ergebnisse aus der internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU): In den vergangenen zwanzig Jahren ist die mittlere Lesekompetenz von Viertklässler*innen in Deutschland deutlich gesunken. Nach aktuellem Stand bleibt rund ein Viertel hinter dem Niveau zurück, das zum Lernen durch Lesen notwendig wäre. Die Bildungsgerechtigkeit hat sich seit Beginn der Studie im Jahr 2001 nicht verbessert. „Das darf nicht weiter so bleiben“, konstatierte die Dortmunder Bildungsforscherin.

Die IGLU-Studie untersucht seit 2001 alle fünf Jahre, wie sich die Lesekompetenz im internationalen Vergleich entwickelt. Nach dem PISA-Schock 2000 soll sie unter anderem zeigen, ob Deutschland die gesteckten Ziele für die Weiterentwicklung der Bildung erreicht hat. Wissenschaftlich geleitet wird die Studie von Prof. Nele McElvany, Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund. Auf Basis der aktuellen Ergebnisse, die den Leistungsstand von mehr als 4.000 Viertklässler*innen im Jahr 2021 abbilden, konstatiert die Dortmunder Bildungsforscherin: „Es hat in den vergangenen zwanzig Jahren zahlreiche Bemühungen gegeben, doch zeigt die neueste Studie, dass die gewünschten Wirkungen in weiten Teilen ausgeblieben sind.“

Seit 2006 Abwärtstrend in Deutschland

Sie nennt die Lage „alarmierend“: So liegt die mittlere Lesekompetenz der Viertklässler*innen in Deutschland im internationalen Vergleich zwar im Mittelfeld, jedoch weist der Trend seit 2006 abwärts. Seither hat sich der Durchschnitt um 24 Punkte verschlechtert. Zwar liegt Deutschland mit derzeit 524 Punkten nach wie vor im EU-Durchschnitt, allerdings schneiden einige Länder in Europa deutlich besser ab, darunter zum Beispiel England (558), Finnland (549), Polen (549), Bulgarien (540) oder Italien (537). Weltweit Spitzenreiter sind Singapur (587) und Hongkong (573). Die Langzeitentwicklung zeigt, dass weder Corona noch der Zuzug Geflüchteter allein die Ursache dafür sind. „Die pandemiebedingten Beeinträchtigungen und die sich verändernde Schülerschaft erklären nur einen Teil des Leistungsabfalls. Es muss klar festgehalten werden, dass der Trend absinkender Schülerleistungen bereits seit 2006 besteht und die problematische Entwicklung in unserem Bildungssystem in den letzten Jahren durch diese Aspekte nur verstärkt wurde.“

Die negative Entwicklung zeigt sich insbesondere bei der Gruppe derjenigen Schüler*innen, die nur über eine unzureichende Lesekompetenz verfügen. So stieg der Anteil derjenigen, die nicht die mittlere Stufe erreichen, seit 2001 deutlich von 17 Prozent auf nunmehr 25 Prozent. Das bedeutet, dass ein Viertel der Viertklässler*innen nicht das Niveau erlangt, um durch Lesen lernen zu können und somit großen Schwierigkeiten im weiteren Schulverlauf oder später im Beruf begegnen könnte. Gleichzeitig sank der Anteil derjenigen Viertklässler*innen, die gut bis sehr gut lesen können, im selben Zeitraum von 47 Prozent auf 39 Prozent. Auch sind die Unterschiede zwischen den guten und schwachen Leser*innen gewachsen.

Soziale Herkunft weiterhin entscheidend

„Die verschiedenen ergriffenen Maßnahmen in den vergangenen beiden Jahrzehnten haben kaum Wirkung im Hinblick darauf gezeigt, den Bildungserfolg sowie Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland zu verbessern“, so Prof. Nele McElvany. Es zeigen sich weiterhin substanzielle Unterschiede sowohl bei der Leistung als auch bei der Gymnasialempfehlung in Abhängigkeit vom familiären Hintergrund der Grundschulkinder. Um eine solche zu erhalten, müssen Kinder aus Arbeiterfamilien nach wie vor wesentlich mehr leisten als Kinder aus Akademikerfamilien. Auch bei gleicher Lesekompetenz und gleichen kognitiven Grundfähigkeiten hat ein Kind aus einer (Fach)Arbeiterfamilie eine 2,5-Mal geringere Chance auf eine Gymnasialpräferenz seiner Lehrkraft als ein Kind mit Eltern in der Oberen Dienstklasse (z.B. führende Angestellte und höhere Beamte).  

Soziale Disparitäten, das macht IGLU 2021 deutlich, sind in Deutschland weiterhin stark ausgeprägt. Ebenso sind die migrationsbezogenen Leistungsdisparitäten im Vergleich zu 2001 nicht geringer geworden. „Befunde anderer Teilnehmerstaaten zeigen positivere Ergebnisse und implizieren damit, dass eine starke Verknüpfung von familiärer Herkunft und schulischem Erfolg, wie es in Deutschland der Fall ist, keinen unausweichlichen Automatismus darstellen muss“, führt Prof. Nele McElvany aus. So fällt die soziale Herkunft in Ländern wie Finnland, Italien oder Slowenien weniger ins Gewicht als in Deutschland, während in Dänemark, den Niederlanden oder Tschechien ein Migrationshintergrund einen geringeren Einfluss hat.

Förderung der Lesekompetenz erforderlich

„Angesichts des alarmierenden Rückgangs der mittleren Lesekompetenz und des hohen Anteils von einem Viertel der Schüler*innen mit unzureichender Lesekompetenz ist es notwendig, gezielte Maßnahmen (weiter-)zu entwickeln“, so McElvany. Dazu ist es erforderlich, die Sicherung der grundlegenden Kompetenzen wie der Lesekompetenz durch eine systematische Kompetenzförderung in den ersten Grundschuljahren zu priorisieren. Während einerseits die Lesekompetenz der schwachen Lesenden gestärkt werden muss, muss gleichzeitig die der starken Lesenden gefördert und ausgebaut werden. Dabei ist auch die Quantität der lesebezogenen Aktivitäten in der wöchentlichen Unterrichtszeit zu bedenken: Während im internationalen Durchschnitt rund 200 Minuten pro Woche für Leseaktivitäten in der Unterrichtszeit aufgebracht werden, sind es in Deutschland gerade einmal 141 Minuten.

Die Leiterin der Studie weist mit Blick auf die gesellschaftliche Verantwortung nachdrücklich auch darauf hin: „In Bezug auf die substanziellen Bildungsungleichheiten zeigt IGLU, dass sich in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland praktisch nichts verändert hat. Das hat hohe Kosten für die betroffenen Individuen, für unsere Gesellschaft und unser Land und darf nicht weiter so bleiben.“ Deutschland muss mit seinem Bildungssystem zukünftig sicherstellen, dass alle Kinder über eine grundlegende Lesekompetenz am Ende der Grundschulzeit verfügen.


Ergebnisse:

Zu den ausführlichen Ergebnissen

Weiterführende Analysen zu zentralen Themen im Kontext der Grundschulen in Deutschland werden in der Reihe Tuesdays for Education ab dem 13. Juni 2023 monatlich  veröffentlicht.

Tuesdays for Education


Zur Studie
IGLU testet die Lesekompetenz und erfasst die Einstellung zum Lesen und die Lesegewohnheiten von Schüler*innen in der vierten Klasse im internationalen Vergleich in einem 5-Jahres-Zyklus. In Deutschland, das bereits zum fünften Mal an der repräsentativen Erhebung partizipierte, haben bei IGLU 2021 insgesamt 4.611 Schüler*innen aus 252 vierten Klassen, ihre Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen teilgenommen. International beteiligten sich rund 400.000 Schülerinnen und Schüler aus 65 Staaten und Regionen. Durch die umfangreiche Befragung werden wichtige Hintergrundinformationen gewonnen. Das zugrundeliegende Vorhaben wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) sowie der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) zu gleichen Anteilen gefördert.

 

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