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Interdisziplinäres Verbundprojekt

Erkenntnisgewinn in virtuellen Räumen

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Drei Männer in Anzügen und eine Frau mit Urkunde in der Hand stehen vor Plakaten von "InVirtuo 4.0" und des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Kultur und Wissenschaft. © Universität Bonn
NRW-Wis­senschafts­mi­nis­te­rin Ina Brandes überreichte den Förderbescheid an (v.l.): Prof. Mario Botsch (TU Dortmund), Dr. Ahmad Aziz (DZNE) und Prof. Reinhard Klein (Uni Bonn).

Mit dem Verbundprojekt „InVirtuo 4.0“ wollen Forschende in Bonn und Dortmund die experimentelle Forschung in virtuellen Umgebungen als neues interdisziplinäres Forschungsprofil etablieren. Das Projekt, das mit drei Millionen Euro vom nordrhein-westfälischen Ministerium für Kultur und Wissenschaft gefördert wird, vereint Expert*innen aus den Bereichen Informatik, Medienwissenschaft, Ethik, Neurowissenschaften, Verhaltensforschung und Psychiatrie.

Das neue Forschungsprojekt wird die neuesten Technologien auf dem Gebiet der Virtuellen Realität (VR) als Instrument für die Grundlagenforschung in den kognitiven Neurowissenschaften, der Psychiatrie und Psychotherapie sowie der klinischen Neurologie erschließen. Neben der Universität und dem Universitätsklinikum Bonn sind die TU Dortmund sowie das Deutsche Forschungszentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) am Projektverbund beteiligt.

Experimente in virtuellen Welten, also „in virtuo“, werden seit Jahren in verschiedenen Disziplinen wie Verhaltens- und Neurowissenschaften eingesetzt und haben schon wertvolle Erkenntnisse und diagnostische Ansätze geliefert, zum Beispiel im Kampf gegen Parkinson. Der Sprecher des Projekts, Prof. Reinhard Klein vom Institut für Informatik der Uni Bonn, erklärt: „Solche Anwendungen erfordern aber sowohl immense Technologiekenntnisse als auch zugleich umfassende technische Ausstattung. Mit unserem neuen Forschungsprojekt InVirtuo 4.0 soll die Lücke zwischen den neuesten technologischen Entwicklungen und deren Anwendung in der technologieferneren Grundlagen- und klinischen Forschung geschlossen werden.“

Konfrontation mit dem eigenen Avatar

Ein Schwerpunkt der Projektarbeit wird daher in der disziplinübergreifenden Ausbildung von Nachwuchsforschenden liegen, die sowohl mit der technologischen als auch mit der experimentellen Seite vertraut sind und die Technologie in die Anwendung tragen können. Ein Beispiel hierfür ist die „In Virtuo Spiegelexposition“ zur Behandlung von Körperschemastörungen im Rahmen von Anorexie oder Adipositas. Hierbei werden Patient*innen mittels individuell angepasster VR-Welten, die sie via VR-Brille betreten, mit ihren Ängsten konfrontiert. In einem virtuellen Spiegel können sie ihr eigenes Spiegelbild – ihren Avatar – manipulieren, um Gewichtszunahme oder -abnahme zu simulieren. Erste Studien deuten auf das Potenzial der VR-Expositionstherapie als effektiven Behandlungsansatz hin. Die Herausforderung besteht darin, dass hier die Integration der technologischen Entwicklung in den therapeutischen Prozess nicht allein technisches Know-how verlangt, sondern zugleich die Fähigkeit, die Bedürfnisse und Anforderungen an das Experiment auch aus psychotherapeutischer Sicht zu verstehen.

Mit dem ebenfalls aus Landesmitteln geförderten „Visual Computing Incubator“ kann der Projektverbund auf ein weltweit einmaliges Hardwaresystem zurückgreifen. Mit ihm können zum Beispiel digitale Zwillinge, also virtuelle Abbilder beliebiger physischer Objekte oder Personen, in bisher noch nicht erreichter 3D-Qualität ausgemessen werden; so sollen künftig beispielsweise in der Parkinson-Forschung minimalste und besonders schnelle Zitterbewegungen darstellbar werden. Außerdem wird an der Optimierung von Reflexionseigenschaften solcher Objekte und Personen geforscht, insbesondere an großen Objekten und Personen in Bewegung.

Die rasante Weiterentwicklung und weltweite Verbreitung der technischen Möglichkeiten wirft auch schwerwiegende ethische und gesellschaftliche Fragen auf, wie sie sich beispielsweise im Umgang mit digitalen Zwillingen zeigen: Der digitale Zwilling einer prominenten Persönlichkeit könnte in der virtuellen Welt für falsche Aussagen missbraucht oder für kriminelle Handlungen benutzt werden, die das Ansehen der realen Person ernsthaft beschädigen. Es stellen sich Fragen zur Verantwortlichkeit für die generierten Inhalte und zum Schutz der Persönlichkeitsrechte. Solche ethischen, rechtlichen und sozio-technischen Herausforderungen stehen im Zentrum der Untersuchungen von Expert*innen aus Medienwissenschaft und KI-Ethik, die dem Projektteam angehören.

Gemeinsame Modellprojekte auf den Gebieten der Klinischen Neurologie, der Psychotherapieforschung und der naturalistischen Spieltheorie sollen das transformative Potenzial von in-virtuo-Forschung verdeutlichen. „Diese Projekte bilden die Grundlage für zukünftige Verbundforschungsvorhaben und sichern den langfristigen Ausbau des neuen Forschungsbereichs an der Universität Bonn gemeinsam mit der TU Dortmund und den beteiligten Kliniken und Instituten“, erklärt der Verbundkoordinator Prof. Reinhard Klein.

Einsatzmöglichkeiten von Bewegungsstörungen bis zur Psychotherapie

Seitens des DZNE sind die Forschungsgruppen von Dr. Dr. Ahmad Aziz und Dr. Martin Reuter am Projektkonsortium beteiligt. „Im Rahmen von InVirtuo 4.0 liegt unser Fokus auf neurodegenerativen Erkrankungen, die mit Bewegungsstörungen einhergehen, wie zum Beispiel die Parkinson’sche Erkrankung und Chorea Huntington“, sagt Aziz. „Konkret wollen wir den Zusammenhang zwischen pathologischen Veränderungen im Gehirn und Störungen in der Motorik untersuchen. Dazu werden wir virtuelle Realität, Deep Learning, also künstliche Intelligenz, und Daten aus Gehirnscans nutzen.“

Am Universitätsklinikum Bonn sind Prof. Alexandra Philipsen, Klinikdirektorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, und die Arbeitsgruppe „Virtual Reality Therapy and Medical Technology“ von Dr. Niclas Braun beteiligt. Hauptziel ist es, unter Verwendung fotorealistischer, (mimisch) animierbarer und morphologisch-adaptierbarer Avatare neue VR-Interventionen zur Charakterisierung und Therapie psychischer Erkrankungen zu entwickeln. Dabei wird der Schwerpunkt auf der Verbesserung der Selbstwahrnehmung und Erleichterung der zwischenmenschlichen Interaktion liegen.

Virtuelle Menschmodelle

Für viele der virtuellen Experimente schlüpfen Proband*innen in einen Avatar – eine fotorealistische virtuelle Kopie ihrer selbst, die sie dann durch die VR-Brille als ihren eigenen Körper wahrnehmen. Prof. Mario Botsch, der an der TU Dortmund den Lehrstuhl für Computergrafik leitet, bringt die Erstellung, Animation und Modifikation dieser Avatare in das Projekt ein: „Der Visual Computing Incubator wird eine einzigartige Plattform werden, die die Qualität der virtuellen Menschmodelle auf eine neue Stufe heben und so die Wirksamkeit der Experimente verbessern wird.“

Die Wissenschaftsministerin des Landes Nordrhein-Westfalen, Ina Brandes, erklärte anlässlich des Starts der Förderung, Forschung wie die im Verbundprojekt „InVirtuo 4.0“ erhalte durch das neue „Förderprogramm Freiräume für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler“ Möglichkeiten, sich über verschiedene Fachdisziplinen hinweg zu vernetzen. „So entstehen innovative Ideen, die den Alltag der Menschen leichter machen“, sagte Brandes. Das Konzept soll die Hochschulen und Forschungseinrichtungen in NRW bei ihrer Profilierung und Vernetzung stärken. Neben „InVirtuo 4.0“, das von November 2023 bis Oktober 2026 gefördert wird, werden noch neun weitere Projekte unterstützt.

 

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