Vortrag: Unruhestifter? Studenten zwischen Aufbegehren und Einübung der Bürgerpflichten
Die politische Rolle der Studenten in der Universitätsstadt ist widersprüchlich. Den Reformansatz der Urburschenschaft als studentische Standesvertretung und Vorkämpferin für bürgerliche Freiheiten reduzierte man ab 1871 auf besitzstandswahrende Positionen. Die Erben der 1848er unterwarfen sich einem Prozess der Selbst-Aristokratisierung, dessen augenscheinlichster Ausdruck die Duell-Wut wurde. Im Widerstand gegen die Weimarer Republik wurden Teile der Studentenschaft zu Wegbereitern des Nationalsozialismus und in der Wiederaufbauphase zu Säulen der Einübung neuer Bürgerlichkeit und des Kalten Krieges. Die 68er-Bewegung bricht diesen Habitus, der in der Massenuniversität endgültig verloren geht, auf. Das modische Markieren dieser Aufbruchsstimmung, die Veränderung der universitären Binnenstrukturen und die normative Kraft des Faktischen wie der Wunsch nach Karriere führen jedoch erneut zu gesellschaftlicher Etablierung und lassen die Alt-68er nach dem Schock des RAF-Erlebnisses nahezu zu einem Veteranenverein degenerieren. Aus den ritualisierten Saufgelagen studentischer Korporationen über die Rauschwolken der 68er-Joints fand man sich sehr rasch als nachwachsende Connaisseurs einer neuen Wein- und Cocktail-Kultur.
Zum Referenten
Dieter A. Binder lehrt seit 1983 am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz und leitet seit 2003 den Lehrstuhl für Kulturgeschichte und Kulturanthropologie an der Andrássy Universität in Budapest. Er arbeitet zu Fragen geschlossener Gesellschaften (Freimaurerei, studentische Zusammenschlüsse), zur Geschichte der politischen Kulturen Österreichs im 20. Jahrhundert und zu Fragen der Wissenschaftsorganisation.
Zur Veranstaltung
Wissen ist der wichtigste Rohstoff der Gesellschaften unseres noch jungen Jahrhunderts und Universitäten sind einer der zentralen Orte, an denen es gefördert wird. Die Existenz einer – oder, wie in Dortmund, mehrerer – Hochschulen ist daher ein großer Standortvorteil für eine Stadt, wie man an der jüngeren Entwicklung des Ruhrgebiets unschwer erkennen kann. Seit Gründung der ersten Universitäten in Europa im Mittelalter gehen dabei Stadt und Universität – „town and gown“ – vielfältige und enge Beziehungen ein.
Was sind die spezifischen Qualitäten einer Universitätsstadt? Wie verhalten sich Stadt und Universität zueinander? Was braucht eine Universität von der Stadt – und wie kann und muss sich die Universität in der Stadt engagieren? Was können wir von klassischen, oft sehr kleinen Universitätsstädten und ihrer Entwicklung lernen? Und geht eine Wissenschaftsregion wie das Ruhrgebiet mit ihrer universitären Allianz ganz neue Wege in der urbanen Verankerung ihrer wissenschaftlichen Förderstätten?
Zum 50. Jubiläum der Technischen Universität Dortmund trägt die neue Staffel der „Stadtgespräche“ zur Identitätsfindung Dortmunds als Universitätsstadt und zur Frage der städtischen Identität ihrer hohen Schulen bei.