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Suche nach neuer Physik

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Zwei kreisförmige Plattformen werden durch ein Mittelstück verbunden. © Maximilien Brice​/​CERN
Am ATLAS-Experiment sind rund 5.500 Menschen von 245 Instituten aus 42 Ländern beschäftigt.

Dr. Chris Malena Delitzsch forscht am ATLAS-Experiment am größten Teilchenbeschleuniger der Welt in der Schweiz. Ziel ihrer Forschung ist es, die Vorhersagen des Standardmodells der Teilchenphysik mit hoher Präzision zu testen und Abweichungen zu erkennen – also Hinweise auf neue Physik zu finden.

In der Nähe von Genf in der Schweiz passiert im Untergrund Faszinierendes: 100 Meter unter der Erde befindet sich eine der gewaltigsten Forschungsstätten der Gegenwart. Sie beherbergt den größten Teilchenbeschleuniger der Welt mit einem Umfang von rund 27 Kilometern. Über 14.000 Menschen aus aller Welt arbeiten und forschen am CERN an den Grundlagen der Physik. Zu ihnen gehört Dr. Chris Malena Delitzsch, Physikerin an der TU Dortmund. Gemeinsam mit ihrem Team sucht sie nach neuer Physik.

„All die sichtbare Materie, die wir kennen, also fast alles, was aus Atomen zusammengesetzt ist, macht nur fünf Prozent des gesamten Universums aus. Der Rest besteht aus Dunkler Materie und Dunkler Energie, über die wir bisher nur sehr wenig wissen“, erklärt Chris Malena Delitzsch. Sie hat die Faszination gepackt. Sie möchte dazu beitragen, dass wir noch viel mehr von dem verstehen, was um uns herum passiert. Ihr Forschungsschwerpunkt sind Elementarteilchen, also Teilchen, die nicht aus anderen Teilchen zusammengesetzt sind, sowie deren Wechselwirkungen. Mit den Experimenten am CERN betreibt die Physikerin Grundlagenforschung.

Seit 2022 leitet sie eine Emmy Noether-Forschungsgruppe, für die sie an die TU Dortmund gewechselt ist. Diese wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit zwei Millionen Euro gefördert und soll herausragende Nach­wuchs­wissen­schaftler*innen auf eine Professur vorbereiten. Gemeinsam mit ihrem Team forscht Delitzsch am Large Hadron Collider (LHC), dem leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt. Hier werden in einem sehr großen Ring Protonen beschleunigt, um diese kollidieren zu lassen. Ihre Arbeit ist eingebettet in das ATLAS-Experiment, eines der vier Hauptexperimente am CERN.

Die Infografik verdeutlicht den Aufbau und das Verfahren des LHC © picture alliance​/​dpa​/​dpa-infografik GmbH
Dr. Chris Delitzsch forscht am ATLAS-Detektor, einem der vier Detektoren am beeindruckenden LHC.

ATLAS ist ein zwiebelförmig aufgebauter Detektor, mit dem Teilchen sichtbar gemacht werden können – eine Art riesige Kamera. Der Allzweckdetektor ist 45 Meter lang, hat einen Durchmesser von 25 Metern und wiegt rund 7.000 Tonnen. Damit ist er der größte Detektor, der jemals an einem Teilchenbeschleuniger betrieben wurde. Er zeichnet die von Elementarteilchen deponierte Energie auf.  Mit den gesammelten Daten versuchen die Forschenden, die Vorhersagen aus dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik zu verifizieren. „Zusätzlich versuchen wir, neue Physik zu entdecken, die Aufschlüsse über bisher unerklärbare Phänomene geben könnte, zum Beispiel die Dunkle Materie“, sagt Delitzsch.

Kleinste Bausteine unserer Welt

Das Standardmodell der Physik beschreibt alle Elementarteilchen, also unsere materielle Welt in ihren kleinsten Bausteinen. Das letzte Teilchen, das entdeckt wurde, ist das Higgs Boson. Es wurde 2012 am LHC gefunden, aber bereits Ende der sechziger Jahre von den Forschern Peter Higgs, François Englert und Robert Brout vorhergesagt. Der LHC wurde ursprünglich gebaut, um die Vorhersagen des Standardmodells präzise zu vermessen und um das vorhergesagte Higgs Boson zu entdecken. „Hier haben wir jetzt ein super aktives Forschungsfeld. Wir vermessen dieses Teilchen mit höchster Präzision, um zu schauen, ob die Theorievorhersagen auch mit dem Gefundenen übereinstimmen“, beschreibt Delitzsch ihre Arbeit genauer.

Ein weiteres interessantes Teilchen ist das Top-Quark. „Es ist rund vierzigmal schwerer als die anderen uns bekannten Quarks. Diese Tatsache fasziniert uns, weil wir nicht wissen, warum das so ist“, sagt Delitzsch. Insgesamt wurden bisher sechs Quarks entdeckt. Die zwei leichtesten Quarks sind die Bestandteile von Protonen und Neutronen. Bei den anderen Quarks handelt es sich um schwerere Klone. Wenn Protonen am LHC aufeinandertreffen, brechen diese auf und ihre Bestandteile, also die Quarks, können miteinander wechselwirken. Dabei entsteht eine Vielzahl neuer Teilchen, die vom ATLAS-Detektor registriert werden. Quarks können jedoch nicht direkt nachgewiesen werden, sondern produzieren eine Vielzahl von hochenergetischen Teilchen, sogenannte Hadronen. Die Hadronen bilden einen gebündelten Teilchenstrahl entlang der Flugbahn der Quarks und werden als Jet rekonstruiert.

Jets, Higgs Boson und Top-Quarks – das sind die Forschungsfelder, in denen die Gruppe rund um Delitzsch aktiv ist. Momentan arbeitet sie in ihrer Nachwuchsgruppe mit zwei Dotorand*innen aus Indien und Deutschland sowie zwei Masterstudenten aus Italien und Deutschland zusammen. Im Juni erweiterte sich das Team um einen Postdoc aus Indien. Jedes Mitglied verbringt eine längere Zeit am CERN und hilft beim Betrieb des LHCs. „Oft sitzen wir dann mitten in der Nacht im Kontrollraum und beobachten acht Stunden lang die Bildschirme – rund um die Uhr im Dreischicht-Betrieb, damit nichts schiefgeht“, erzählt Delitzsch.

Eine Frau sitzt vor einer Vielzahl an Monitoren © Maximilien Brice​/​CERN
Im Kontrollzentrum überwachen Forscher*innen aus aller Welt den Betrieb des Teilchenbeschleunigers – rund um die Uhr im Dreischicht-Betrieb.

5.500 Forscher*innen aus aller Welt

Am ATLAS-Experiment sind rund 5.500 Menschen von 245 Instituten aus 42 Ländern beschäftigt. „Aktuell erstelle ich eine Analyse gemeinsam mit Forschenden zum Beispiel aus Amerika, Rumänien, Frankreich, Schweden und Argentinien. Das macht den Austausch auch manchmal etwas schwierig. Nicht unbedingt wegen der Sprache, die natürlich Englisch ist, sondern eher wegen der unterschiedlichen Zeitzonen“, sagt Delitzsch.

Ein Mann mit Helm steht vor einer langen Röhre in einem röhrenförmigen langen Tunnel. © Maximilien Brice​/​CERN
Der LHC wurde in den vergangenen Jahren sehr aufwendig umgebaut und verbessert, sodass die beschleunigten Protonen seit 2022 heftiger als je zuvor aufeinanderprallen.

Sie selbst war zuletzt im März 2023 am CERN. Der Teilchenbeschleuniger wurde aus seinem Winterschlaf geholt und die Datennahme gestartet. Über mehrere Monate werden nun wieder Protonen zur Kollision gebracht. Bei einer Milliarden Reaktionen pro Sekunde, die im ATLAS-Detektor gemessen werden, entsteht eine unvorstellbar große Menge an Daten. „Natürlich können wir nicht alle Daten speichern, dies würde ca. ein Megabyte pro Kollision, also 40 Terabyte pro Sekunde entsprechen“, erklärt Delitzsch. Die erste Herausforderung ist es also, Algorithmen zu entwickeln, die relevante Ereignisse herausfiltern. Diese werden dann gespeichert und analysiert.

Der ATLAS-Detektor hat unterschiedliche Komponenten, in denen die verschiedenen Teilchen nachgewiesen werden können. Eine Komponente beschäftigt sich hauptsächlich damit, Elektronen nachzuweisen, eine andere erkennt zum Beispiel Quarks. Dabei messen die Wissen­schaft­ler*innen, an welcher Stelle ein Teilchen durchgeflogen ist und wie viel Energie es hinterlassen hat. „Die Daten sagen uns leider nicht direkt, um welches Teilchen es sich handelt“, sagt Delitzsch. Hier beginnt die knifflige Arbeit. Mit Hilfe von komplexen Algorithmen werden die Signaturen im Detektor analysiert und die einzelnen Teilchen rekonstruiert. Jedes Teilchen hat eine bestimmte Signatur, die beschreibt, welche Energien an welcher Stelle aufgezeichnet werden.

Ungefähr viermal im Jahr reist Chris Delitzsch in die Schweiz, die restliche Zeit arbeitet sie von Dortmund aus: „Die TU Dortmund ist ein toller Standort für die Forschung in der Teilchenphysik. Die Zusammenarbeit mit den anderen Disziplinen ist stark: zum Beispiel mit Kolleg*innen mit Expertise im maschinellen Lernen, die uns bei der Entwicklung neuer Rekonstruktionsalgorithmen helfen, oder mit Statistiker*innen, die uns mit ihren Methoden unter die Arme greifen, um die Daten zu analysieren.“ Auch die Anbindung ihrer Nachwuchsgruppe an andere Teilchenphysik-Gruppen der TU Dortmund sei extrem wertvoll. „Wir profitieren jeden Tag von der umfassenden Expertise hier am Standort“, betont Delitzsch.

Extrem seltene Ereignisse

Für ihre weitere Forschung hat sie noch viele Visionen: „Ganz klar möchte ich neue Physik finden. Diese Vision treibt uns Teilchenphysiker*innen an.“ Das sei mit der aktuellen Datenmenge allerdings schwierig. In Zukunft soll der LHC mit noch höheren Energien arbeiten können und mehr als das Zehnfache der bisherigen Datenmenge produzieren. Auch der ATLAS-Detektor wird dann noch einmal verbessert. Denn: „Je mehr Daten wir aufnehmen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, extrem seltene Ereignisse zu finden“, erklärt Delitzsch.

Das Upgrade stellt die Forscher*innen aufgrund der hohen Anzahl von Kollisionen, die gleichzeitig stattfinden, jedoch vor große Herausforderungen. Besonders häufig entstehen Hadronen in den zusätzlichen Kollisionen, die mit den Jets überlappen und zu ihrer Energie beitragen. „Ein Teil meiner aktuellen Forschung beschäftigt sich damit, die zusätzlichen Energiedepositionen der Hadronen zu identifizieren und aus den Jets zu entfernen”, sagt Delitzsch. Mehr Kollisionen lassen mehr Teilchen entstehen, die das interessante Signal verunreinigen. „Wir sind nur an ein paar Teilchen von bestimmten Kollisionen in einem Meer von produzierten Teilchen interessiert. Man kann sich das wie in einem Wimmelbuch vorstellen: Je mehr Gegenstände auf dem Bild sind, desto schwieriger ist es, das Einzelne zu sehen”, erklärt sie.

Ende des Jahres geht es für Delitzsch wieder für eine längere Zeit nach Genf. Sie übernimmt dann die Arbeit der „Data Preparations Koordinatorin“. Als solche wird sie die Schnittstelle zwischen der Datennahme und den Analysen, die die Daten verwenden, weiter optimieren.

Text: Anna-Christina Senske


Zur Person:

Eine Frau und ein Mann stehen vor ein Tafel © Felix Schmale​/​TU Dortmund

Dr. Chris Malena Delitzsch leitet seit 2022 an der Fakultät Physik der TU Dortmund im Forschungsschwerpunkt Teilchenphysik eine Emmy Noether-Nachwuchsgruppe. Als Internationalisierungsbeauftragte der Fakultät Physik ist sie Ansprechpartnerin für Studierende, die Auslandserfahrungen sammeln wollen. Ihr Studium der Physik absolvierte Delitzsch an der Universität Göttingen, sie promovierte von 2012 bis 2016 in Genf. Zwischen 2017 und 2021 war sie als Postdoc an der University of Arizona, forschte aber während der Zeit weiter am CERN und übernahm hier Führungspositionen: Von 2017 bis 2019 leitete sie die Jet-Substructure-Gruppe und von 2019 bis 2021 die Jet/Etmiss-Gruppe mit rund 200 Mitgliedern. Zwischen 2021 und 2022 war sie als Akademische Rätin an der TU Dortmund tätig.

Dies ist ein Beitrag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dortmund.

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