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Beste Bedingungen für soziale Innovationen

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Blick auf ein Wohnhaus, das zum Teil einen roten Anstrich, zum anderen Teil einen blauen Anstrich hat. Im Vordergrund sind viele Pflanzen zu sehen. © picture alliance​/​dpa​/​Thomas Frey
Das Mehrgenerationenprojekt WohnArt in Bad Kreuznach schafft bezahlbaren und barrierearmen Wohnraum. Es gibt Gemeinschaftsflächen und individuelle Wohneinheiten.

Innovationen – bei dem Thema geht es in der Regel um neue Technologien. Die Sozialforschungsstelle der TU Dortmund dagegen beschäftigt sich in internationalen Verbundprojekten mit Innovationen in Form neuer sozialer Praktiken wie Carsharing, Mehrgenerationenhäusern oder Kreislaufwirtschaft. Denn die großen gesellschaftlichen Herausforderungen – vom Klimawandel bis zur Digitalisierung – sind durch technische Neuerungen allein nicht zu bewältigen.

Tauschen statt kaufen, teilen statt besitzen, verschenken statt vernichten, beteiligen statt allein entscheiden: Soziale Innovationen verändern Einstellungen und Verhaltensweisen grundlegend. Bereits seit 2010 forschen Wissen­schaft­ler*innen der Sozialforschungsstelle (sfs) zu sozialen Innovationen und machen damit ausgerechnet das Land der Ingenieur*innen zu einem starken Player auf diesem Gebiet. In einem von der Europäischen Union geförderten Projekt haben sie sich mit Expert*innen aus Deutschland, Polen, Dänemark, Estland und Großbritannien zusammengeschlossen, um soziale Innovationen in ganz Europa zu erforschen, zu stärken und nationale Kompetenzzentren aufzubauen. An der sfs wird das Projekt ESIA – European Social Innovation Alliance – von Dr. Christoph Kaletka koordiniert.

An der European Social Innovation Alliance sind von der Sozialforschungsstelle beteiligt:

Dr. Christoph Kaletka, Daniel Krüger, Katrin Bauer, Dr. Karina Maldonado-Mariscal und Marthe Zirngiebl.

Soziale Innovationen leisten schon heute in ganz Europa einen aktiven Beitrag zu einer gleichberechtigteren, nachhaltigeren und gerechteren Gesellschaft. Wir glauben, dass wir zusammenarbeiten müssen, um die derzeitigen sozialen und wirtschaftlichen Systeme zu verändern und die Infrastrukturen zu verbessern, um noch mehr Innovation zu ermöglichen. Unser Netzwerk gibt dazu erfolgreichen Innovationen einen Ort, an dem sie gesehen, gefunden und gewürdigt werden. Nachahmung ist ausdrücklich erwünscht!

Daniel Krüger

Politik und Wissenschaft sind sich weitgehend einig, dass die großen gesellschaftlichen Herausforderungen – vom Klimawandel über die alternde Gesellschaft bis zur Digitalisierung des Bildungssystems – durch technische Neuerungen allein nicht zu bewältigen sind. Die zuvor stark technisch und ökonomisch geprägte Innovationseuphorie weicht mittlerweile einem neuen, ganzheitlichen Verständnis von Innovation. Auch die Bundesregierung hat das Thema bereits prominent in ihre Hightech-Strategie aufgenommen. Vor dem Hintergrund der großen gesellschaftlichen Herausforderungen und eines neuen Innovationsverständnisses wurde die Strategie weiterentwickelt und 2023 als „Zukunftsstrategie für Forschung und Innovation“ veröffentlicht. Soziale und technologische Innovationen werden hier als gleichberechtigt betrachtet. Der Diskurs habe sich verändert, sowohl in der Innovationsforschung als auch in der Innovationspolitik, bestätigt Christoph Kaletka: „Heute fragt niemand mehr: Soziale Innovation – was ist das eigentlich? Sondern eher: Wie machen wir es konkret? Wohin entwickelt sich die Forschung? Was gibt es für gute Beispiele und was können wir daraus lernen?“

Es geht dem ESIA-Konsortium deshalb auch darum, das Thema besser im öffentlichen Diskurs zu verankern, damit soziale Innovationen, die anders als Neuerungen technischer Art oftmals in der Zivilgesellschaft entstehen, eher erkannt, gefördert und gezielt verbreitet werden. ESIA soll Wissenstransfer gewährleisten, als Beratungsinstanz für Förderstellen und Stiftungen dienen, Synergien mit anderen Initiativen hervorbringen sowie Netzwerke national und international weiterentwickeln. Durch den Austausch von Ansätzen und Methoden, unter anderem zu Fördermaßnahmen, sozialem Unternehmertum und sozialen Investitionen, sollen nationale Ökosysteme für soziale Innovationen gestärkt werden.

Expert*innen aus verschiedenen Ländern Europas machten sich im Februar 2023 in Berlin einen Eindruck vom Ökosystem sozialer Innovationen in Deutschland.

Das Team der Dortmunder Sozialforschungsstelle begleitet die Entwicklung eines umfassenden Innovationsverständnisses seit mehr als zehn Jahren mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten und setzt durch Handlungsempfehlungen für die Politik Impulse. Mit Prof. Jürgen Howaldt und Dr. Michael Schwarz haben zwei Forscher der sfs eine in der internationalen Forschungscommunity anerkannte Definition sozialer Innovation entwickelt. Auch in der Industrie ist das Thema hochaktuell: Gerade in den energieintensiven Prozessindustrien würden Technologieentwicklung und soziale Innovationsprozesse zunehmend Hand in Hand gehen, beispielsweise beim Aufbau einer Kreislaufwirtschaft, so Kaletka.

Wikipedia: Unter sozialer Innovation versteht man die Entstehung, Durchsetzung und Verbreitung von neuen sozialen Praktiken in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen.

Hightech-Strategie 2025 der Bundesregierung: Soziale Innovationen umfassen neue soziale Praktiken und Organisationsmodelle, die darauf abzielen, für die Herausforderungen unserer Gesellschaft tragfähige und nachhaltige Lösungen zu finden.

Jürgen Howaldt und Michael Schwarz (sfs): Eine soziale Innovation ist eine von bestimmten Akteuren (…) ausgehende intentionale (…) Neukonfiguration sozialer Praktiken in bestimmten Handlungsfeldern mit dem Ziel, Probleme oder Bedürfnisse besser zu lösen (…) als dies auf der Grundlage etablierter Praktiken möglich ist. (...) Das Neue vollzieht sich nicht im Medium technologischer Artefakte, sondern auf der Ebene sozialer Praktiken (des Regierens, Organisierens, Versorgens, Konsumierens, der Partnerschaft, der Verhandlung etc.).

„Wir mischen uns ein“

Da die Folgen von Klimawandel und Umweltverschmutzung genauso wie die Herausforderungen der Armutsbekämpfung und des Erhalts der Biodiversität globale Themen sind, können sie nur gemeinsam sinnvoll angegangen werden. Auch deshalb ist der internationale Austausch über veränderte soziale Praktiken für den wissenschaftlichen und politischen Umgang mit sozialer Innovation so wichtig. ESIA bringt die Perspektiven von Akteur*innen aus den unterschiedlichen Bereichen – Wissenschaft, Politik, Sozialunternehmen, Zivilgesellschaft – zusammen und sorgt für eine feste Verankerung der Strategien in allen beteiligten Ländern. So soll eine europaweite Infrastruktur für soziale Innovation auf allen Ebenen – lokal, regional, national und transnational – aufgebaut werden. „Wir betreiben hier tatsächlich eine auf gesellschaftliche Wirkung zielende Wissenschaft, indem wir nicht nur unser theoretisches und empirisches Wissen zur Verfügung stellen, sondern uns einmischen und Prozesse mitgestalten“, so Kaletka.

Teilhabe, Diversität und Nachhaltigkeit sind die grundlegenden Prinzipien, an denen soziale Innovationen ansetzen: Initiativen wie Kleidertauschbörsen, Mikro-Kredite für Kleinstunternehmer oder Carsharing entsprechen nicht nur sich wandelnden Bedürfnissen, sondern verbessern auch das Miteinander und eröffnen benachteiligten Menschen neue Möglichkeiten.

Der Social Innovation Atlas präsentiert viele spannende Beispiele für soziale Innovationen auf der ganzen Welt: www.socialinnovationatlas.net.

Deshalb wollen Politik und Wissenschaft bestmögliche Rahmenbedingungen für das Gedeihen sozialer Innovationen schaffen. Wie soziale Innovationen in unterschiedlichen Regionen der Welt entstehen und gefördert werden, welche gesellschaftlichen Sektoren beteiligt sind, unter welchen Bedingungen erfolgreiche Ansätze Verbreitung finden und auf welche Hemmnisse Initiativen stoßen, hat die sfs bereits in verschiedenen internationalen For­schungs­pro­jekten untersucht – zum Beispiel im Projekt „SI-DRIVE“. Dort entstand von 2014 bis 2018 eine Weltkarte sozialer Innovationen: Rund 1.000 Innovationen wurden dabei untersucht und verglichen, erzählt Christoph Kaletka, der das Projekt gemeinsam mit Jürgen Howaldt und Antonius Schröder leitete.

Auch in Deutschland hat das Thema trotz des historisch bedingten Fokus auf Technologie an Fahrt aufgenommen. Inzwischen gehöre Deutschland zusammen mit Ländern wie Portugal zu den Vorreitern für eine Innovationspolitik, in der soziale Innovation eine wichtige Rolle einnimmt, so Kaletka. Dieses Wissen bringt das sfs-Team auch in die neue europäische Allianz ein. Das ESIA-Team hat herausgefunden, inwiefern sich auch Umsetzung und Charakter der sozialen Innovationen in den beteiligten Ländern unterscheiden: Dänemark habe beispielsweise früh administrative Prozesse im öffentlichen Sektor verändert. Deutschland verankere das Thema nun auf hoher politischer Ebene, während Polen es weiterhin eher der Zivilgesellschaft überlasse. Großbritannien sei stark auf soziales Unternehmertum fokussiert.

Von lokalen Initiativen lernen

Neben den großen internationalen Zusammenhängen erforscht die sfs auch lokale Initiativen und deren Potenziale. „Es gibt schon viele Ideen“, sagt Christoph Kaletka – nur würden eben aus sehr wenigen soziale Innovationen. Als erfolgreiches Beispiel nennt er die Bürger-Energie-Genossenschaften („Bürgerwerke“), die dazu beitragen, nachhaltig Energie zu erzeugen und weniger zu verbrauchen. Oder die Initiative „Tausche Bildung für Wohnen“ aus Duisburg: Studierende und andere junge Menschen wohnen kostenlos und unterstützen dafür Kinder und Jugendliche aus strukturell benachteiligten Stadtteilen als Bildungspaten und -patinnen beim Lernen. Um solche sozialen Innovationen übertragbar zu machen, müsse man die Rahmenbedingungen ihrer Entstehung untersuchen, damit sie auch an anderen Orten funktionieren können.

Blick in einem Raum, an dem mehrere Personen hintereinander an Tischen sitzen und eine Nähmaschine bedienen. © ESIA consortium
In Estland besucht das ESIA-Konsortium eine familiengeführte Schuhproduktion, die eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft aufbaut.
Zwei Personen stehen zwischen zwei schulterhohen Schuhregalen in einem kleinen Raum. © ESIA consortium
Von solchen erfolgreichen lokalen Initiativen können alle Partnerländer lernen.

Ein bekanntes Beispiel für eine funktionierende soziale Innovation, die in Deutschland entwickelt wurde und sich nun in weiteren Ländern etabliert, ist das Projekt „discovering hands“: Sehbehinderte und blinde Frauen werden wegen ihres oft besonders gut ausgeprägten Tastsinns in der Brustkrebsfrüherkennung eingesetzt. Dafür werden sie zu professionellen Medizinisch-Taktilen Untersucherinnen ausgebildet. Vor allem in weniger technisierten Ländern hat diese manuelle Untersuchung einen großen Effekt. „So wird eine Idee durch Erfolg zur Innovation“, sagt Kaletka.

Mit der Wirtschaftsförderung der Stadt Dortmund hat das sfs-Team das Dortmunder Social Innovation Center aufgebaut, in dem verschiedene Akteur*innen mit unterschiedlichen Perspektiven gemeinsam an Lösungen stadtgesellschaftlicher Herausforderungen arbeiten. „Nach der Konzeptentwicklung und Pilotierung dieser neuen Infrastruktur hat die Stadtspitze entschieden, das Center nach Auslaufen der Förderung zu verstetigen“, berichtet Kaletka. „Deshalb können dort nun weitere Ideen zu Innovationen entwickelt werden, zum Beispiel zur Quartiersentwicklung in Dortmund oder zu betriebsnaher Kinderbetreuung.“

In Deutschland nimmt das Thema soziale Innovation erst richtig Fahrt auf.

Dr. Christoph Kaletka

Ein weiteres Beispiel sind sogenannte PIKSL-Labore, von denen es in Deutschland 13 gibt, seit 2019 auch eines in Dortmund an der Hohe Straße. Die Abkürzung steht für „Personenzentrierte Interaktion und Kommunikation für mehr Selbstbestimmung im Leben“. In den Einrichtungen für digitale Teilhabe arbeiten Menschen mit Lernbeeinträchtigung als Coaches. Sie bieten beispielsweise Computerschulungen für Senior*innen, wo sie als Expert*innen im Vereinfachen erfolgreiche Arbeit leisten. Expertise zu finden, wo man sie nicht unbedingt vermutet, und Teilhabe am Arbeitsleben neu zu organisieren – auch das gelingt durch soziale Innovation. „Dieses Beispiel zeigt, dass die Digitalisierung einerseits die Umsetzung und Verbreitung vieler kreativer Ideen fördert, aber auch neue Problemfelder eröffnet und damit weitere soziale Innovationen triggert“, sagt Kaletka. „Zwar muss man soziale und technologische Innovationen getrennt voneinander erforschen, dennoch ergeben sich auch komplexe Abhängigkeitsverhältnisse.“

Eine andere Herausforderung, der sich das sfs-Team derzeit stellt: Verstehen, wie Hochschulen mit dem Thema soziale Innovation umgehen und es in Forschung, Lehre und Transfer integrieren. Dies erforschen Christoph Kaletka und sein Team seit Oktober 2022 in einem dreieinhalbjährigen ESIA-Folgeprojekt, diesmal finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Es sei noch viel zu tun für die Sozialforschungsstelle, denn, so Kaletka: „In Deutschland nimmt das Thema soziale Innovation erst richtig Fahrt auf.“

Text: Susanne Riese


Dr. Christoph Kaletka ist seit 2021 stellvertretender Direktor der Sozialforschungsstelle (sfs) an der Fakultät Sozialwissenschaften der TU Dortmund. Er arbeitet dort bereits seit 2003, seit 2012 ist er Mitglied der Geschäftsführung. Christoph Kaletka wurde am Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster promoviert und an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund habilitiert. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Lehrstuhl für Public Relations an der Universität Münster. An der sfs koordiniert Christoph Kaletka die internationale Forschung und leitet nationale wie internationale Forschungsprojekte. Seine zentralen Forschungsfelder sind soziale Innovation, digitale Teilhabe und digitale Lernorte. Zu diesen Themen lehrt er an den Fakultäten Sozialwissenschaften und Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund.

Bild von Dr. Christoph Kaletka © justfotography​/​sfs

Dies ist ein Beitrag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dortmund.
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