Zum Inhalt
mundo

Lego spielen mal anders

-
in
  • mundo
Ein Schwamm-ähnliches Kunststoffmaterial und mehrere Kunststoffplatten liegen auf einer schwarzen Oberfläche. © luchschenF​/​stock.adobe.com

Forscher*innen tüfteln an neuen Materialien, die erstaunliche Eigenschaften besitzen: Sie können Geräusche absorbieren oder Vibrationen hemmen. Bislang werden diese „Metamaterialien“ jedoch noch nicht in der Praxis angewandt. Prof. Angela Madeo von der Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen erforscht in einem von der EU geförderten Projekt neue Methoden, um herauszufinden, wie sich die Metamaterialien in künftigen Bauprojekten mit regulären Baustoffen kombinieren lassen – quasi ein Lego-Spiel der verschiedenen Materialien.

Wer einen Block elastischen Materials in seinen Händen hält und an zwei gegenüberliegenden Seiten zieht, erwartet, dass der Block durch die Ziehbewegung in der Mitte dünner wird. Doch es gibt eine Möglichkeit, den Stoff so herzustellen, dass das Verhalten ins Gegenteil verkehrt wird: Zieht man an den Seiten, so dehnt sich der mittlere Teil gegen jede Intuition aus und wird breiter.

Dies ist nur ein Beispiel für ein Metamaterial. Das Wort kommt vom griechischen meta, was ‚über‘ bedeutet. „Metamaterialien sind also Materialien, die über das hinausgehen, was wir gewohnt sind“, erklärt Prof. Angela Madeo von der Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen. Diese künstlich hergestellten Werkstoffe verfügen über Eigenschaften, die in der Natur nicht vorkommen. Dabei sind Metamaterialien keine neuartigen Stoffe im Sinne einer chemischen Innovation. Die ungewöhnlichen Eigenschaften entstehen nämlich durch die Form des Materials: Auch wenn sie von außen betrachtet nicht anders aussehen als herkömmliche Materialien, so haben sie eine einzigartige innere Struktur, die die gewünschten Effekte hervorruft. Eine Einheit dieser sich wiederholenden Struktur nennt man „Unit Cell“. Die Metamaterialien selbst können aus verschiedenen Stoffen gefertigt sein, zum Beispiel aus Metallen, Silizium oder Kunststoffen.

Ein elastisches Material, das nicht dünner, sondern breiter wird, wenn man daran zieht,...
...ein Würfel, bei dem auf einer seiner Seiten ein Smiley erscheint, wenn man ihn drückt...
...und eine mechanische Tarnkappe. Diese neuartigen Eigenschaften können Metamaterialien ermöglichen.

Forscher*innen haben bereits eine Vielzahl an potenziellen Metamaterialien mit neuartigen Attributen erdacht – sei es ein Würfel, bei dem auf einer seiner Seiten ein Smiley erscheint, wenn man ihn drückt, oder eine Art mechanische Tarnkappe, in deren Inneren man Gegenstände „verstecken“ kann. Dabei werden die mechanischen Wellen, die durch den Druck des fühlenden Fingers erzeugt werden, so umgeleitet, dass ein Gegenstand, der sich in einem Block dieses Metamaterials befindet, nicht ertastet werden kann. Während dies Beispiele für mechanische Metamaterialien sind, gibt es auch optische Metamaterialien, die mit elektromagnetischen Wellen – also Licht – wechselwirken. Ein Forschungsteam der Universität Princeton konnte eine funktionierende Kamera­linse herstellen, die so klein wie ein Salzkorn ist und deren Mikrostruktur als eine Art optische Antenne agiert. Und Forscher*innen aus Tel Aviv haben eine Kontaktlinse entwickelt, deren Mikrostruktur hilft, eine Rot-Grün-Schwäche zu mildern.

Bislang kaum Anwendung in der Praxis

Prof. Angela Madeo widmet sich in ihrer Arbeit mechanischen Metamaterialien, die zukünftig in Bauprojekten eingesetzt werden könnten. Unterstützt wird sie von einem Team von Doktorand*innen und Postdocs, die unter anderem aus Griechenland, Frankreich, Costa Rica, Deutschland und Italien kommen. „Die TU Dortmund setzt sich sehr für die Internationalisierung ein – für mich ist das eine echte Stärke“, sagt sie. Zusammen mit ihrem Team hat sie ein Metamaterial entwickelt, in dem sich mechanische Wellen nicht ausbreiten. Dieser Effekt entsteht durch eine Struktur aus vielen kleinen kreuzförmigen Elementen. „Schlüge man eine Ecke eines solchen Blocks mit einem Hammer, würde man am anderen Ende keinerlei Vibrationen spüren“, erklärt Angela Madeo. Man kann die Mikrostruktur auch so bauen, dass akustische Wellen, also Geräusche, nicht übertragen werden.

„Jeden Tag erfinden Wissen­schaft­ler*innen neue Unit Cells für verschiedenste Anwendungen“, sagt Madeo. Doch bislang werden Metamaterialien fast gar nicht in der Praxis verwendet, denn noch sind die Möglichkeiten, diese am Computer für reale Anwendungen zu testen, wenig entwickelt.

Zwischen zwei weißen Platten sind in drei Reihen Strukturen eines transparenten Kunststoffes eingespannt. © Angela Madeo
Prof. Madeo und ihr Team haben ein Metamaterial entwickelt, in dem akustische Wellen nicht übertragen werden.
Die Strukturen eines neuartigen Metamaterials, das einem Steinfliesen-Bild auf dem Boden in der Kathedrale von Chartres in Frankreich ähnelt. © Zlatko Guzmic​/​stock.adobe.com
Zufällig ähnelt dessen Struktur einem Steinfliesen-Bild auf dem Boden in der Kathedrale von Chartres in Frankreich.

Unit Cells lassen sich mit numerischer Software simulieren, also mit Programmen, die Algorithmen der numerischen Mathematik nutzen. Nach Eingabe der jeweiligen Geometrie erhalten die Wissen­schaft­ler*innen ein Diagramm, das sozusagen den Fingerabdruck des Materials darstellt und dessen Eigenschaften beschreibt. Beispielsweise wird durch diese Simulation angezeigt, welche Frequenzbereiche sich in dem Material nicht ausbreiten.

„Dieser Fingerabdruck sagt nur aus, wie sich ein unendlich großer Block einer bestimmten Unit Cell verhalten wird. Aber in realen Anwendungen haben die Materialien endliche Größen“, erklärt Madeo. „Wenn man zum Beispiel Metamaterialien in einem Auto verwendet, werden sie vielleicht in einem schmalen Teil des Rahmens eingebaut. Dabei stellen sich eine Menge technischer und wissenschaftlicher Fragen: Wie verhält sich das Metamaterial im Kontakt mit einem herkömmlichen Stoff, oder wie verbindet man das Metamaterial mit einem anderen Metamaterial?“ Das Simulieren von Metamaterialien endlicher Größe in Kombination mit anderen (Meta-)Materialien ist sehr komplex. Doch genau das ist unverzichtbar, um die neuartigen Materialien in eine reale Anwendung zu bringen. „Deshalb heißt mein Projekt Meta-LEGO, weil wir versuchen zu verstehen, wie man verschiedene makroskopische Blöcke von endlicher Größe miteinander verbinden kann.“ Madeos Projekt wird seit 2021 mit einem begehrten ERC Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrats (European Research Council, ERC) in Höhe von zwei Millionen Euro gefördert.

Komplexe Geometrie bringt Rechner an Kapazitätsgrenze

In der Theorie könnte auch eine numerische Software berechnen, wie sich eine begrenzte Anzahl an Unit Cells verhält und mit anderen Materialien interagiert. Doch die Geometrie der Unit Cells ist meist so kompliziert, dass sie auch leistungsfähige Rechner an ihre Kapazitätsgrenze bringt. Daher erforscht Prof. Madeo, wie man die Modelle, die die Software nutzt, vereinfachen kann, um die komplizierte Mikrostruktur in der Simulation zu ersetzen. „Das vereinfachte Modell kommt sehr nah an die Eigenschaften der numerischen Berechnung heran, sodass wir das Makroverhalten mit einem Bruchteil der Rechenkosten simulieren können“, erklärt Prof. Madeo. Ihr wissenschaftlicher Werdegang kommt ihr dabei zugute. „Ich komme aus der theoretischen und angewandten Mechanik, vor allem aus der Kontinuumsmechanik“, sagt Madeo. Diese beschäftigt sich mit der Modellierung von Materialverhalten auf der makroskopischen Ebene. Die Modelle ermöglichen es, das Verhalten von Materialien in verschiedenen Situationen vorherzusagen und zu verstehen. „Daher bin ich es gewöhnt, an Probleme praxisorientiert heranzugehen, anstatt auf alle Details zu achten.“

Simulation einer mechanischen Welle, die durch ein Metamaterial (Viereck in der Mitte) geschickt wird. Im herkömmlichen Modell (links) ist die komplette Mikrostruktur des Metamaterials dargestellt – das Programm berechnet somit jede einzelne Unit Cell, was Rechner an ihre Kapazitätsgrenze bringt. Prof. Madeos vereinfachte Variante auf Basis eines erweiterten Kontinuumsmodells (Mitte) simuliert die Welle fast identisch. Dadurch dauert die Berechnung nur einen Bruchteil. Das klassische Kontinuumsmodell (rechts) ist nicht dazu geeignet, die Modellierung von Metamaterialien zu vereinfachen, da die Welle falsch berechnet wird

Madeo und ihr Team sind die ersten, die erweiterte Kontinuumsmodelle verwenden, um das Verhalten von Metamaterialien direkt auf der makroskopischen Skala zu modellieren. Dazu passen sie Formeln entsprechend an und übertragen sie in die Software, die die Berechnungen für die Simulation vornimmt. Mit ihrem Modell, das sich relaxed micromorphic model nennt, können nun begrenzt große Blöcke aus Metamaterial und ihre Wechselwirkung mit anderen Materialien simuliert werden – ein wichtiger Schritt, um Metamaterialien in die Anwendung zu bringen. Ihr Modell können sie an dem „Fingerabdruck“ der numerischen Simulation testen und so prüfen, ob die Ergebnisse vergleichbar sind, und bei Bedarf die Parameter entsprechend anpassen. So können die TU-Forscher*innen für viele bereits entwickelte mechanische Metamaterialien ein passendes Modell erarbeiten, mit dem eine komplexere Anwendung simuliert werden kann.

Weiteres Forschungsprojekt geplant

Die Auswahl ist groß, doch Madeo und ihre Mitarbeiter*innen konzentrieren sich ganz konkret auf Unit Cells, die für Anwendungen im Bauwesen hilfreich sind. Zum Beispiel möchten sie ein Material für die Praxis entwickeln, das in der Lage ist, Lärm herauszufiltern. Dabei geht es im Wesentlichen um eher niedrige Frequenzbereiche zwischen 50 und 3.000 Hertz. „Wir konzentrieren uns darauf, wie wir die Unit Cells optimieren und zusammensetzen können und wie wir die anderen Materialien auswählen, aus denen die Wand oder Struktur besteht.“ Eine Idee ist, Fenster mit einer Sandwich-Struktur zu kreieren, die im Inneren geräuschhemmende Unit Cells enthalten. In einem anderen Ansatz untersuchen sie Materialien, die Vibrationen verschwinden lassen. Diese könnten zukünftig beispielsweise in Bahnhöfen zum Einsatz kommen, sodass ein- oder durchfahrende Züge nicht mehr spürbar wären.

Der Bildausschnitt zeigt vier Stockwerke eines modernen Hauses mit verglasten Fassaden und architektonisch interessant gestalteten Elementen, die die Wohnungen und Stockwerke äußerlich abgrenzen. © elxeneize​/​stock.adobe.com
Fenster mit einer Schicht aus geräuschhemmenden Unit Cells könnten an Orten mit hoher Lärmbelastung zum Einsatz kommen.
Ein moderner Hochgeschwindigkeitszug fährt in einen nächtlichen Bahnhof ein. © jlfsousa​/​stock.adobe.com
Metamaterialien könnten in Bahnhöfen die Vibrationen ein- und durchfahrender Züge hemmen.

Doch was passiert nach einer erfolgreichen Modellierung des Materials? „Unser gebautes Meta-Lego muss an einem Produkt getestet werden, um zu prüfen, ob es tatsächlich so funktioniert wie in der Simulation“, sagt Madeo. Sie plant daher ein weiteres Projekt, um die am Computer modellierten Unit Cells in einem 3D-Drucker herstellen und so auch in der echten Welt testen zu können. Dafür möchte sie einen Proof of Concept Grant beim ERC beantragen. Dabei handelt es sich um eine ergänzende Förderung des Europäischen Forschungsrats für Wissen­schaft­ler*innen, die bereits einen ERC Grant innehaben und ein Forschungsergebnis aus ihrem laufenden oder bereits abgeschlossenen Projekt über die Forschung hinaus weiter entwickeln möchten. Im Falle eines Erfolges könnte sie Patente beantragen und sich mit Unternehmen zusammenschließen, die das Metamaterial für den Markt produzieren könnten.

Text: Adriane Koller


Zur Person:

Prof. Angela Madeo studierte Bau- und Umweltingenieurwesen an der Universität La Sapienza in Rom sowie Ingenieurwissenschaften und Mechanik an der Virginia Polytechnic Institute and State University, USA. Für ihre Promotion im Bereich der Theoretischen und Angewandten Mechanik kehrte sie nach Rom zurück. Sie habilitierte sich 2014 am Nationalen Institut der angewandten Wissenschaften in Lyon, wo sie im Anschluss lehrte und forschte. 2021 nahm sie ihren Ruf an die Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen der TU Dortmund auf die Professur Continuum Mechanics an.

Ein Portrait einer Frau mit Brille und blonden Haaren. © Martina Hengesbach

Dies ist ein Beitrag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dortmund.

Alle Beiträge der aktuellen Ausgabe